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Organon
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Aktuelle Version vom 6. Dezember 2020, 21:16 Uhr
Der sächsische Arzt Samuel Hahnemann, der Erfinder und Begründer der Homöopathie, legte seine Glaubenssätze und Regeln in seinem Hauptwerk, dem Organon, nieder. Dieses mittlerweile über 200 Jahre alte Buch ist noch heute unverändert die Grundlage der homöopathischen Lehre und zentraler Inhalt der verschiedensten Ausbildungsgänge zum Homöopathen.[1]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Dieses Buch erschien erstmals 1810 unter dem Titel Organon der rationellen Heilkunde, ab der zweiten Auflage von 1819 erschien es unter dem Titel Organon der Heilkunst und stand unter dem lateinischen Motto Aude sapere, auf Deutsch Wage es, weise zu sein! In der ersten Auflage war das Motto noch ein Gedicht des Aufklärers Christian Fürchtegott Gellert:
Die Wahrheit, die wir alle nöthig haben,
die uns als Menschen glücklich macht,
ward von der weisen Hand, die sie uns zugedacht,
nur leicht verdeckt, nicht tief vergraben.[2]
Auch durch das neue Motto Aude sapere stellt sich Hahnemann damit selbst in die Tradition der Aufklärung, war es doch der Philosoph und Bannerträger der Aufklärung, Otto Immanuel Kant, der Sapere aude zum Wahlspruch der Aufklärung machte. Der Titel „Organon“ stammt aus dem Griechischen und kommt von ὄργανον, was Werkzeug oder Instrument bedeutet und eine „logische Schrift zur Grundlegung der Erkenntnis“[3] bezeichnet. Hahnemann stellt sich damit in eine Reihe mit Aristoteles und Francis Bacon, die ebenfalls grundlegende Schriften so benannten.
Auflagen und Stil
Zu Lebzeiten Hahnemanns erschienen insgesamt fünf von ihm selbst bearbeitete Auflagen. Die sechste und letzte von Hahnemann bearbeitete Auflage konnte erstmals 1921 erscheinen. Herausgegeben wurde sie von Richard Haehl, der allerdings wohl bei der Manuskriptabschrift nicht im Sinne Hahnemanns arbeitete, was aus einer textkritischen Ausgabe von 1992 hervorgeht.[4]
Seit 1992 ist eine überarbeitete Fassung von Josef M. Schmidt auf dem Markt, die um eine Systematik und ein Glossar erweitert wurde. Grundlage auch dieser Ausgabe ist allerdings die sechste Auflage Hahnemanns. Somit bleibt dieses Werk von 1842 auch heute noch die „Bibel der Homöopathen“ und das Fundament dieser Heilmethode und der „Ausbildungen“ zum Homöopathen.
Hahnemann hatte in der Erstellung seines Opus magnum einen recht eigenwilligen Arbeitsstil:
Schon für die erste Auflage hatte Hahnemann Fragmente aus seinen bisher veröffentlichen Schriften benutzt. Zur Vorbereitung der folgenden Auflagen nahm er jeweils ein Exemplar, ergänzte einige Sätze, strich andere und klebte Zettel mit gänzlich neuen Paragraphen ein. Dabei hatte er nie genügend Zeit am Stück, um ein Werk aus einem Guss zu schaffen. Daher hat das Organon in den späteren Auflagen eine Flickenteppich-Struktur. Innerhalb eines einzigen Satzes gibt es mitunter Teile, die zwanzig Jahre älter sind als der Rest und unterschiedliche, sich überlappende Entwicklungsstränge wiedergeben. Deswegen ist es möglich, dass sich heutige Anhänger mit unterschiedlichen Ansichten auf ein und dasselbe Werk Hahnemanns berufen.[5]
Alle fünf zu Hahnemanns Lebzeiten erschienen Auflagen wurden durch die Arnoldische Buchhandlung in Dresden verlegt, eine der bedeutendsten Verlagsbuchhandlungen ihrer Zeit, welches in der Dresdner Webergasse ansässig war.[6] Die Arnoldische Buchhandlung gab auch weitere homöopathische Schriften heraus, in der fünften Auflage finden wir nach dem Inhaltsverzeichnis insgesamt drei Seiten an Büchern zur „Homöopathik“. Ab der zweiten Auflage war auch eine Abbildung Hahnemanns enthalten.
Die Ausführungen Hahnemanns sind im blumigen und abschweifenden Stil seiner Zeit gehalten. Allerdings finden sich immer wieder kleine Dialekteinstreuungen, die die sächsische Herkunft Hahnemanns zeigen, so beispielsweise der Begriff „riebisch“ für rauh oder spröde oder der Begriff „schwalken“ für aufsteigend oder überschwappend.
Während die erste Auflage von 1810 noch 271 unbenannte Punkte (später Paragraphen) kennt, sind es 1819 in der zweiten Auflage bereits 318, was sich bis zur fünften Auflage von 1833 wieder auf 294 reduziert.
Dogmatischer Tenor
Bereits in der Vorerinnerung (Einleitung) zur ersten Auflage zeichnet sich die künftige Dogmatik Hahnemanns ab. Er sieht sich als Einzigen, der es gewagt hat, sich für die Gesundheit der Menschheit von der bisherigen Medizin abgewandt zu haben und stilisiert sich als Einzigen, der „die Wahrheit“ gefunden hat. So schreibt er:
Ich rechne mirs zur Ehre, in neuern Zeiten der einzige gewesen zu seyn, welcher eine ernstliche, redliche Revision derselben angestellt, und die Folgen seiner Ueberzeugung theils in namenlosen, theils in namentlichen Schriften dem Auge der Welt vorgelegt hat. Bei diesen Untersuchungen fand ich den Weg zur Wahrheit, den ich allein gehen mußte, sehr weit von der allgemeinen Heeresstraße der ärztlichen Observanz abgelegen. Ie weiter ich von Wahrheit zu Wahrheit vorschrit, destomehr entfernten sich meine Sätze, deren keinen ich ohne Erfahrungsüberzeugung gelten ließ, von dem alten Gebäude, was aus Meinungen zusammengesetzt, sich nur noch durch Meinungen erhielt.[7]
Auch wendet sich Hahnemann gezielt gegen das medizinisch-wissenschaftliche Vorgehen, welches gerade in dieser Zeit im Entstehen begriffen ist. Für ihn zählen reine Erfahrungen:
Die wahre Heilkunst ist ihrer Natur nach eine reine Erfahrungswissenschaft und kann und darf sich daher blos an lautere Thatsachen und die für ihren Wirkungskreis gehörigen, sinnlichen Erscheinungen halten, denn alle die Gegenstände, die sie zu behandeln hat, werden ihrer sinnlichen Wahrnehmung deutlich und genüglich durch die Erfahrung gegeben; Kenntniss der zu behandelnden Krankheit, Kenntniss der Wirkung der Arzneien auf die Vertreibung der Krankheiten anzuwenden sind, alles diess lehrt einzig und hinreichend die Erfahrung; nur aus reinen Erfahrungen und Beobachtungen können ihre Gegenstände entnommen werden und sie darf sich keinen einzigen Schritt aus dem Kreise reiner, wohlbeobachteter Erfahrungen und Versuche wagen, wenn sie vermeiden will, ein Nichts, eine Gaukelei zu werden.[8]
Hahnemann wendet sich in zahlreichen Stellen gegen eine wissenschaftlich-systematische Vorgehensweise, für ihn sind die Krankheiten nur der „Komplex aller Symptome“.[9] Er ist davon so besessen, dass er sogar das Inhaltsverzeichnis der zweiten Auflage mit folgender Anmerkung versieht:
§ 1. 2. Der einzige Beruf des Arztes ist schnelles, sanftes, dauerhaftes Heilen; Anm. nicht das Schmieden theoretischer Systeme und Erklärungsversuche.[10]
So verwundert es auch nicht, dass Hahnemann dem § 1 des Organons Des Arztes höchster und einziger Beruf ist kranke Menschen Gesund zu machen, was man Heilen nennt.[11] folgende Anmerkung anhängt:
Nicht aber (womit so viele Aerzte bisher Kräfte und Zeit ruhmsüchtig verschwendeten) das Zusammenspinnen leerer Einfälle und Hypothesen über das innere Wesen des Lebensvorgangs und der Krankheitsentstehung im unsichtbaren Innern zu sogenannten Systemen, oder die unzähligen Erklärungsversuche über die Erscheinungen in Krankheiten und ihre (stets verborgen bleibende) nächste Ursache, u. s. w. in unverständliche Worte und einen Schwulst abstrakter Redensarten gehüllt, welche gelehrt klingen sollen, um den Unwissenden in Erstaunen zu setzen – während die kranke Welt vergebens nach Hülfe seufzt. Solcher gelehrter Schwärmereien (man nennt es theoretische Arzneikunst und hat sogar eigne Professuren dazu) haben wir nun gerade genug und es wird hohe Zeit, dass was sich Arzt nennt, endlich einmal aufhöre, die armen Menschen mit Geschwätze zu täuschen und nun zu handeln, das ist, wirklich zu helfen und zu heilen anfange.[12]
Diese Einstellung entspricht der auch heute noch anzutreffenden Meinung unter Homöopathen, dass Anekdoten über vermeintliche Heilerfolge schwerer wiegen als wissenschaftliche Studien.
Stattdessen propagiert er seine „revolutionäre“ These, dass Ähnliches mit Ähnlichem kuriert werden solle. Hahnemann schreibt in seiner ersten Auflage:
[…] der ächte Heilweg, zu welchem ich in diesem Werke die Anleitung gebe: wähle, um sanft, schnell und dauerhaft zu heilen, in jedem Krankheitsfalle eine Arznei, welche ein ähnliches Leiden vor sich erregen kann, als sie heilen soll (similia similibus curentur)! Diesen homöopathischen Heilweg lehrte bisher niemand. Ist es aber die Wahrheit, die diesen Weg vorschreibt, so lässt sich erwarten, dass, gesetzt sie wäre auch Jahrtausende nicht geachtet worden, sich dennoch Spuren von ihr, der Unsterblichen, in allen Zeitaltern werden auffinden lassen. Und so ist es auch.[13]
Nach Hahnemanns Auffassung wandten schon die Ärzte früherer Zeiten homöopathische Vorgehensweisen an, aber er selbst sei der Erste, der dies erkennen konnte. Natürlich führt er im Anschluss an diese Aussage ausführliche Beispiele aus der Medizingeschichte an, die seiner Meinung nach sein Simile-Prinzip untermauern. Allerdings dürfte der Großteil der geschilderten Heilerfolge einer tatsächlichen phytotherapeutischen Wirkung bzw. Unkenntnis des tatsächlichen Wirkstoffes geschuldet sein, so beispielsweise beim Einsatz von Mohnsaft. Auch seine Ausführungen zur Pestbehandlung durch Arsenik[14] dürften mit größerer Vorsicht zu genießen sein. Auch wenn Arsenik schnell in Brand übergehende Entzündungsgeschwülste hervorbringt, dürfte deswegen sein Heilungserfolg bei der Beulenpest mehr als fraglich bis unwahrscheinlich sein.[15][16][17]
Wobei Hahnemann sogar so weit geht und Behandlungen durch Elektrizität homöopathisch zu erklären versucht.[18] Bereits zur damaligen Zeit wurden elektrische Experimente zur Behandlung von Rheuma erfolgreich durchgeführt, die Heilungserfolge sind hier aber durchaus nicht auf das homöopathische Ähnlichkeitsprinzip zurückzuführen. Die elektrischen Behandlungen der Augen und der Zunge, die Hahnemann beschreibt, sind allerdings eher als höchst gesundheitsgefährdend denn als heilend einzustufen.
Somit kann man sagen, dass das von Hahnemann entwickelte Simile-Prinzip auf fehlender Kenntnis der tatsächlichen naturwissenschaftlichen Zusammenhänge basiert, die zur damaligen Zeit auch noch nicht bekannt waren.
Symptome behandeln, nicht die Krankheit
Hahnemann propagiert in den ersten Paragraphen seines Organons (§ 10 ff.), dass Krankheiten nur auf den Geist und die auf ihn einwirkende schlechte „Lebenskraft“ zurückzuführen seien. So schreibt er im § 12:
Einzig die krankhaft gestimmte Lebenskraft bringt die Krankheiten hervor, so daß die, unsern Sinnen wahrnehmbare Krankheits-Aeußerung zugleich alle innere Veränderung, das ist, die ganze krankhafte Verstimmung der innern Dynamis ausdrückt und die ganze Krankheit zu Tage legt. Hinwiederum bedingt aber auch das Verschwinden aller Krankheits-Aeußerungen, das ist, aller vom gesunden Lebens-Vorgange abweichenden, merkbaren Veränderungen mittels Heilung, eben so gewiß die Wiederherstellung der Integrität des Lebens-Princips und setzt folglich die Wiederkehr der Gesundheit des ganzen Organism nothwendig voraus. Und in der Anmerkung hierzu wird er noch deutlicher: Wie die Lebenskraft den Organism zu den krankhaften Aeußerungen bringt, d. i. wie sie Krankheit schafft, von diesem Wie und Warum kann der Heilkünstler keinen Nutzen ziehn und sie wird ihm ewig verborgen bleiben; nur was ihm von der Krankheit zu wissen nöthig und völlig hinreichend zum Heilbehufe war, legte der Herr des Lebens vor seine Sinne.
Umgang mit Kritikern
Bereits kurz nach der ersten Veröffentlichung seines Buches erfuhr Hahnemann Kritik aus der wissenschaftlich-kritischen Ärzteschaft und mit den Jahren auch zunehmend aus den eigenen Reihen der Homöopathen. Hahnemann benutzte daher die fünfte und sechste Auflage seines Organons auch dafür, „allopathische“ Ärzte und ihm nicht blind folgende Homöopathen zu beschimpfen. So schreibt er in der sechsten Auflage einer Fußnote zum § 148:[19]
Aber dieses mühsame, zuweilen ser mühsame Aufsuchen und Auswählen des jedesmaligen Krankheits-Zustande in allen Hinsichten homöopathisch angemessensten Heilmittels, ist ein Geschäft, was ungeachtet aller lobwerthen Erleichterungs-Bücher, doch noch immer das Studium der Quellen selbst und zudem vielseitige Umsicht und ernste Erwägung fordert, auch nur vom Bewußtseyn treu erfüllter Pflicht seinen besten Lohn empfängt – wie sollte diese mühsame, sorgfältige, allein die beste Heilung der Krankheiten möglich machende Arbeit den Herren von der neuen Mischlings-Sekte behagen, die mit dem Ehrennamen Homöopathiker sich brüsten, auch zum Scheine Arznei geben von Form und Ansehn der homöopathischen, doch von ihnen nur so ohnehin (QUIDQUID IN BUCCAM VENIT) ergriffen, und die, wenn das ungenaue Mittel nicht sogleich hilft, die Schuld davon nicht auf ihre unverzeihlige Mühescheu und Leichtfertigkeit bei Abfertigung der wichtigsten und bedenklichsten aller Angelegenheiten der Menschen schieben, sondern auf die Homöopathie, der sie große Unvollkommenheit vorwerfen (eigentlich die, daß sie ihnen, ohne eigne Mühe, das angemessenste homöopathische Heilmittel für jeden Krankheits-Zustand, nicht von selbst wie gebratene Tauben in den Mund führe!). Sie wissen sich ja dann doch, wie gewandte Leute, bald über das Nicht-Helfen ihrer kaum halb homöopathischen Mittel zu trösten durch Anbringung der ihnen geläufigern allopathischen Scherwenzel, worunter sich ein oder etliche Dutzend Blutigel an die leidende Stelle gesetzt, oder kleine unschuldige Aderlässe von 8 Unzen u. s. w. recht stattlich ausnehmen, und kömmt der Kranke trotz dem Allen doch davon, so rühmen sie ihre Aderlässe, Blutigel u. s. w., ohne welche derselbe nicht hätte erhalten werden können und geben nicht undeutlich zu verstehen, daß diese, ohne viel Kopfzerbrechen aus dem verderblichen Schlendrian der alten Schule hervorgelangten Operationen im Grunde das Beste bei der Cur gethan hätten; stirbt aber der Kranke dabei, wie nicht selten, so suchen sie eben damit die trostlosen Angehörigen zu beruhigen, ‚daß sie selbst Zeuge wären, wie doch nun alles Ersinnliche für den seelig Verstorbnen gethan worden sey.‘ Wer wollte solcher leichtsinnigen, schädlichen Brut die Ehre anthun, sie nach dem Namen der sehr mühsamen, aber auch heilbringenden Kunst, homöopathische Aerzte zu nennen? Ihrer warte der gerechte Lohn, daß sie, einst erkrankt auf gleiche Art kurirt werden mögen!
Und bereits im Vorwort zur fünften Auflage von 1833 spricht Hahnemann von „allopathischer Versündigung“, „Mischlings-Homöopathen“, „After-Homöopathen“ oder schwadroniert über die „Reinheit“ der homöopathischen Lehre.[20] Wie er auf die heutigen homöopathischen „Trikomplexe“ (homöopathische Mittel, die aus drei „Wirkstoffen“ bestehen), reagiert hätte, wäre sicherlich interessant zu wissen, widerspricht dies doch seinen Theorien. Hahnemann ging davon aus, dass immer nur eine einzige Krankheit im Körper bestehen kann.[21]
Ausschlussklausel und Ausspionieren der Patienten
Ein besonderer Kunstgriff Hahnemanns sind die §§ 283 und 284 (ab Auflage 4 §§ 259-261), die unter der Überschrift Lebensordnung in chronischen Krankheiten stehen. Es handelt sich hier um Ausschlussklauseln, die dann greifen, wenn die homöopathischen Mittel nicht helfen. Zu Anfang sind es auch nach heutigem Wissensstand vernünftige Ratschläge, wie den Konsum von Koffein und Alkohol im Krankheitsfall einzuschränken oder auf Thierspeisen, welche faulicht sind zu verzichten, was sicherlich auch für gesunde Menschen von Vorteil ist. Weiters warnt Hahnemann vor dem Konsum jedweder Speisen und Getränke, die mit Gewürzen zubereitet wurden, die arzneiliche Nebenwirkungen haben, genauso wie vor Riechwasser, Parfum, Zahnpulver bzw. Zahnspiritus (Vorläufer der heutigen Zahnpasta) oder Keim-Stengeln.
Mit heutigem Wissen wenig nachvollziehbar ist es indes, wenn Hahnemann dann aber noch stark riechende Blumen im Zimmer, Stubenhitze, schafwollene Haut-Bekleidung, lesen in wagerechter Lage, übermäßiges Kind-Säugen oder langen Mittagsschlaf im Bett verbietet. Auch warnt er vor der falschen Art der Bewegung wie Reiten, Fahren oder Schaukeln und sitzender Lebensart in eingesperrter Stuben-Luft. Ganz strikt greift Hahnemann auch in das Geschlechtsleben seiner Patienten ein, wenn er Nachtleben, Unreinlichkeit, unnatürliche[r] Wohllust, Entnervung durch Lesen schlüpfiger Schriften, Onanism oder, sei es aus Aberglauben, sei es um Kinder-Erzeugung in der Ehe zu verhüten, unvollkommne[n], oder ganz unterdrückte[n] Beischlaf verbietet.[22]
Obschon Hahnemann hier einen umfangreichen Verbotskatalog erlassen hat, beklagt er sich am Ende der Anmerkung noch wie folgt:
Einige meiner Nachahmer scheinen durch Verbieten noch weit mehrer, ziemlich gleichgültiger Dinge, die Diät des Kranken unnöthig zu erschweren, was nicht zu billigen ist.
Dass Hahnemann weder seinen Patienten noch deren Familien traut, zeigt sich schon seit der ersten Auflage, ruft er doch in der Anmerkung zu seinem § 72 folgendermaßen zum Spitzeltum auf:
Den entehrenden, etwanigen Veranlassungen, welche die Kranken oder die Angehörigen nicht gern, wenigstens nicht von freien Stücken gestehen, muss der Arzt durch klügliche Wendungen der Fragen, oder durch andre Privaterkundigungen auf die Spur zu kommen suchen; dahin gehören: Vergiftung oder intendirter Selbstmord, Onanie, Ausschweifung in gewöhnlicher oder unnatürlicher Wollust, Schwelgen in Wein, Liqueuren, Punsch, Kaffee – Schwelgen in Essen überhaupt, oder in besonders schädlichen Speisen, venerische Krankheiten, unglückliche Liebe, Eifersucht, Hausunfrieden, und Gram über ein Familienunglück, erlittene Mishandlung, verbissene Rache, gekränkter Stolz, Zerrüttung des Vermögenszustandes, abergläubige Furcht, Hunger – oder ein Körpergebrechen an den Schamtheilen, ein Bruch, ein Vorfall, u. s. w.[23]
Die heutige Bedeutung des Organons
Zur Zeit Hahnemanns basierten die Behandlungsmethoden auf antiken oder mittelalterlichen Vorstellungen über den Körper, wie die Vier-Säfte-Lehre,[24] die sogenannte Humoralpathologie,[25] und waren daher schon als brachial anzusehen und schadeten dem Patienten eher, als dass sie halfen. Zu nennen wären hier beispielsweise umfangreiche Aderlässe oder der großzügige Einsatz von Quecksilber.
Sieht man nun Hahnemanns Ansatz, dem Patienten durch extreme Verdünnungen der Arzneien vor allem nicht zu schaden, vor diesem Hintergrund, so hatte dies seine Berechtigung. Allerdings brachten die vergangenen rund 200 Jahre, seit die erste Auflage des Organons entstanden ist, einen enormen Wissenszuwachs in der Medizin und den Naturwissenschaften mit sich, wie beispielsweise die Zellularpathologie von Virchow, die Entdeckung der Hormone oder die Begründung der Bakteriologie durch Cohn und Koch. Diese Entwicklungen gingen an den Apologeten Hahnemanns spurlos vorbei. Und dennoch ist dieses heute durch eben jene Weiterentwicklungen der Wissenschaft vollkommen veraltete Lehrbuch immer noch in unveränderter Form ein wesentlicher Bestandteil homöopathischer Ausbildung und Schulung.
Trotzdem sind in der heutigen homöopathischen Behandlungspraxis zahlreiche Vorgehensweisen zu finden, die dem Organon nicht entsprechen und so dem Willen Hahnemanns zuwiderlaufen. Samuel Hahnemann ging nämlich davon aus, dass in einem Körper immer nur eine einzige Krankheit bestehen kann, weswegen auch nur ein einziges Mittel einzunehmen ist.[26] Trotzdem vertreiben die Hersteller von Homöopathika auch sogenannte Komplexmittel, die drei und mehr Einzelsubstanzen enthalten sollen. Man geht sogar so weit, in der Werbung auf die vermeintlichen Synergieeffekte der enthaltenen „Tri-Komplexe“ hinzuweisen – Mittel, die es nach Hahnemann gar nicht geben dürfte.[27]
Sogar die selbstgewählte Darstellung der Homöopathie als „Komplementärmedizin“, also die „Ergänzung“ der evidenten Verfahren durch Homöopathika, widerspricht dem Organon grundlegend. Hahnemann legt in § 52 eindeutig fest, dass es ein Wahn und ein verbrecherischer Verrath sei, Homöopathika gleichzeitig oder auch im Wechsel mit anderen Medikamenten einzunehmen:
Es giebt nur zwei Haupt-Curarten: diejenige welche all ihr Thun nur auf genaue Beobachtung der Natur, auf sorgfältige Versuche und reine Erfahrung gründet, die (vor mir nie geflissentlich angewendete) homöopathische und eine zweite, welche dieses nicht thut, die (heteropathische, oder) allöopathische. Jede steht der andern gerade entgegen und nur wer beide nicht kennt, kann sich dem Wahne hingeben, daß sie sich je einander nähern könnten oder wohl gar sich vereinigen ließen, kann sich gar so lächerlich machen, nach Gefallen der Kranken, bald homöopathisch, bald allöopathisch in seinen Curen zu verfahren; dieß ist verbrecherischer Verrath an der göttlichen Homöopathie zu nennen![28]
Ein weiteres Feld, welches nicht mit dem Organon vereinbar ist, ist die Tierhomöopathie. Einer der grundlegenden Pfeiler der Homöopathie ist gemäß des Organon eine saubere Anamnese, also Geistes- und Gefühlssymptome, Unterscheidungen verschiedener Schmerzausprägungen etc. und die daraus resultierende individuelle Verabreichung der Mittel. Diese Anamnese ist naturgemäß beim Tier nicht möglich.
Selbst die Homöopathen sind sich im Umgang mit diesen Widersprüchen zum Organon nicht einig. Einige systematische Reviews wie die Arbeit von Mathie berücksichtigen Studien, die Komplexmittel oder nicht-individualisierte Homöopathika einsetzen, für ihre Auswertungen nicht. Ihre Popularität und dadurch ihr Einsatz in der Praxis werden aber durchaus zitiert.
Außerdem gibt es einen Widerspruch zwischen dem Organon und dem Homöopathischen Arzneibuch (HAB),[B 1] was z.B. die vorgeschriebene Anzahl der Schläge pro Potenzierungsschritt und das Mischungsverhältnis bei jedem Potenzierungsschritt angeht (⇒ siehe Hauptartikel Potenzieren). Somit erfolgt die Herstellung der Homöopathika nicht immer nach dem Organon.
Trotz dieser umfangreichen Unterschiede zwischen Lehrbuch (Organon) und gelebter Behandlungspraxis gibt es keinen Paragraphen im Organon, der übereinstimmend von Homöopathen als heute obsolet angesehen wird.
Quellen- und Literaturangaben |
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Anmerkungen und Originalzitate |
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