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Oscillococcinum
Oscillococcinum® ist ein bei Grippe und grippalen Infekten häufig empfohlenes homöopathisches Präparat des französischen Marktführers für Homöopathika Boiron.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Oscillococcinum ist ein Homöopathikum, das auf den französischen Arzt Joseph Roy zurückgeht, der während des Ersten Weltkriegs als Lazarettarzt tätig war. Er vermeinte, in Ausscheidungen von Opfern der Spanischen Grippe in seinem Mikroskop Bakterien beobachtet zu haben, die er für die Erreger der Grippe hielt.[1] Roy beschrieb kugelförmige Gebilde unterschiedlicher Größe, die schnelle, schwingende Bewegungen ausführten und die er für Mikroben hielt. Aus diesem Grund gab er seiner Entdeckung den Namen Oszillokokken – schwingende Bakterien. Später glaubte er, sie auch noch im Blut und den Tumoren von Krebspatienten entdeckt zu haben. Da Roy sie besonders zahlreich in der Leber von Enten zu finden glaubte, wird Oscillococcinum deshalb aus Entenleber und -herz hergestellt.
Es ist im Nachhinein nicht zu klären, was genau Roy in seinem Mikroskop beobachtet hatte. Heute ist jedoch bekannt, dass weder Krebs noch die Grippe noch eine der anderen Krankheiten, für die Roy seine Oszillokokken als Verursacher vermutete, überhaupt durch Bakterien verursacht werden. Grippe wird durch Viren verursacht[2], die erheblich kleiner als Bakterien sind, sodass sie in einem optischen Mikroskop, wie es Roy zur Verfügung stand, nicht zu beobachten sind. Erst um 1930 gelang die Darstellung von Viren mittels Elektronenmikroskopie.[3]
Kein anderer Mikrobiologe konnte Roys Beobachtungen bestätigen. Bis heute ist kein Bakterium bekannt, das in Entenleber zu finden ist und Grippe verursachen kann. Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass Roy in seinem Mikroskop Luftbläschen sah, deren Zittern durch die thermische Brown’sche Molekularbewegung verursacht wurde.
Oscillococcinum® von Boiron
Oscillococcinum® von Boiron ist eines der meistverkauften homöopathischen Präparate in den USA.[4] Auch in Frankreich und anderen europäischen Ländern ist es stark am Markt vertreten.
Laut Beipackzettel[5] enthält es „Anas Barbariae, Hepatis und Cordis extractum 200 K“, das sind Entenleber und -herz in einer Potenz von C200, also 1:10400, hergestellt nach der Einglasmethode nach Korsakoff. In dieser Verdünnung ist von den Entenorganen im fertigen Präparat kein einziges Molekül mehr enthalten. Das hat auch eine Sprecherin von Boiron auf eine Nachfrage nach der Sicherheit des Präparates bestätigt:
Natürlich ist es sicher, es ist nichts drin.[6]
Oscillococcinum® wird als wirksames Mittel zur Prophylaxe sowohl grippaler Infekte als auch der echten Grippe angepriesen und ebenso als geeignetes Mittel, die Dauer und Schwere der Symptome der Grippe zu verkürzen. Mitunter werden hierbei als Belege auch Studien genannt, die signifikante Effekte über Placebo zum Ergebnis hatten.[7]
Studienlage zu Oscillococcinum® und wissenschaftliche Einschätzung
Boiron[8] und verschiedene Homöopathen beziehen sich mit ihren Wirksamkeitsaussagen vor allem auf zwei ältere Studien (Ferley et al, 1989; Papp et al, 1998). Zu Oscillococcinum® gibt es auch einen regelmäßig auf den neuesten Stand gebrachten Cochrane Report.
Ferley et al., 1989
Bei der Arbeit von Ferley et al., 1989[9] handelte es sich um eine randomisierte, verblindete und placebokontrollierte Studie. 237 Patienten mit Grippesymptomen erhielten Oscillococcinum®, 241 Patienten Placebo. Die Patienten dokumentierten zweimal täglich ihre gemessene Körpertemperatur sowie die Schwere fünf typischer Symptome wie unter anderem Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen und Schüttelfrost. Hauptauswertekriterium der Studie war die Besserung der Symptome und die Normalisierung der Temperatur nach 48 Stunden. Als genesen galt ein Patient, wenn seine Körpertemperatur nicht mehr höher als 37,5° war und die betrachteten fünf Symptome nicht mehr auftraten.
Im Ergebnis war mit 39 Patienten der Anteil genesener Patienten nach 48 Stunden in der Oscillococcinum®-Gruppe signifikant höher als in der Placebogruppe, in der nach 48 Stunden nur 24 Patienten keine Symptome mehr zeigten.
Kritiker schätzten die Arbeit als wenig überzeugend ein: Trotz der Gruppengröße von über 200 Patienten pro Gruppe würde die statistische Signifikanz verschwinden, wenn nur drei oder vier Patienten einen anderen Krankheitsverlauf gezeigt hätten. Das Ergebnis zeigte außerdem klar, dass die absolute Mehrheit der Patienten nicht von dem Mittel profitierte. In der Gruppe der Patienten mit schweren Symptomen zeigte sich keinerlei Gruppenunterschied. Kritisiert wurde auch, dass Ferley et al. in ihren Ergebnistabellen die Daten nur unvollständig angegeben hatten. Zum Beispiel enthielt die Tabelle, in der die Patienten nach Altersgruppen getrennt betrachtet wurden, nur die Daten von 207 bzw. 205 Patienten.[10]
In der Arbeit selbst wurde darauf hingewiesen, dass die Menge der eingenommenen Schmerz- und Fiebermittel in den Gruppen nicht erfasst wurde.[B 2] Entsprechend wiesen die Autoren darauf hin, dass die Studie einen kausalen Zusammenhang zwischen den Genesungen und Oscillococcinum® nicht belegen könne.[B 3]
Papp et al., 1998
Das Design der Arbeit von Papp et al., 1998[11] war ähnlich zu der älteren Studie: Auch hier handelte es sich um eine randomisierte, verblindete und placebokontrollierte Studie. 188 Patienten mit Grippesymptomen erhielten Oscillococcinum®, 184 Patienten Placebo. Ausgewertet wurden schließlich die Daten von 167 Patienten pro Gruppe. Als genesen galten Patienten, deren Körpertemperatur unter 37,5° lag und die nicht mehr an Kopf- und Muskelschmerzen litten. Verglichen wurde die Anzahl der genesenen Patienten nach 48 Stunden und in den Folgetagen.
Papp et al. gaben als Ergebnis an, dass nach 48 Stunden die Symptome der Patienten in der Oscillococcinum®-Gruppe signifikant besser waren als in der Placebogruppe.
Norbert Aust wies in seiner Analyse der Studie[12] darauf hin, dass die Daten für den zweiten Auswertetag innerhalb der Arbeit widersprüchlich angegeben sind. Zudem war auch hier deutlich zu erkennen, dass die meisten Patienten nicht von dem Mittel profitierten und die insgesamt erreichten Unterschiede in der Genesungszeit von sieben bis zehn Tagen gerade einmal in der Größenordnung von sechs Stunden liegen.
Cochrane Report
Zu Oscillococcinum® gibt es einen systematischen Cochrane Review Report, der regelmäßig erneut durchgeführt wird. In diese Übersichtsbewertung gingen entsprechend mehr Studien ein als in die beiden eben genannten.
In den Jahren 2000, 2004, 2006 und 2009 wurde dieser Cochrane Report von Vickers und Smith durchgeführt. In allen vier Reviews waren die ausgewerteten Studien dieselben: Vickers und Smith fanden beim systematischen Durchsuchen aller Datenbasen drei Studien, die eine Vorsorgewirkung von Oscillococcinum® untersuchten und in denen insgesamt Daten von 2265 Patienten ausgewertet wurden, sowie vier Studien, in denen erkrankte Patienten mit Oscillococcinum® behandelt wurden. Hier flossen die Daten von insgesamt 1194 Patienten ein, unter anderem aus den oben genannten Arbeiten. Im Report von 2009 wiesen die Autoren außerdem darauf hin, dass man auch die Hersteller von Oscillococcinum® angeschrieben und nach weitergehenden Informationen über vorliegende Wirksamkeitsnachweise gefragt hatte.[13]
Insgesamt kam der Report zu dem Ergebnis:
Obwohl vielversprechend, sind die Daten nicht aussagekräftig genug, um eine generelle Empfehlung für Oscillococcinum als Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung von Grippe und grippeähnlichen Erkrankungen auszusprechen. (…) Die aktuelle Datenlage unterstützt keine vorbeugende Wirksamkeit von oscillococcinumartigen Homöopathika bei Grippe oder grippeähnlichen Erkrankungen.
In den Jahren 2012 und 2015 wurde der Report von Mathie, Fyre und Fisher durchgeführt, wobei in den neueren Report keine weiteren Studien einflossen. Die Ergebnisse stimmten deshalb mit der Einschätzung von 2012 überein. Das Ergebnis unterschied sich praktisch nicht von dem von Vickers und Smith aus den Vorjahren:[14][15]
Es gibt nicht genug gute Belege, um stichhaltige Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit von Oscillococcinum® bei der Prophylaxe oder Behandlung der Grippe und grippeähnlicher Erkrankungen zu ziehen. Unsere Ergebnisse schließen die Möglichkeit nicht aus, dass Oscillococcinum® eine klinische Wirksamkeit haben könnte, aber in Anbetracht der niedrigen Qualität der betrachteten Studien sind die Belege nicht überzeugend.
Zusammenfassende Bewertung
Bei Oscillococcinum® sind bereits die mikrobiologischen Grundannahmen falsch, da es die von Roy vermuteten grippeverursachenden Bakterien überhaupt nicht gibt. Aus naturwissenschaftlicher Sicht kann daher keine Wirksamkeit von Oscillococcinum® über Placeboeffekte hinaus erwartet werden, auch deshalb, weil keine Wirkstoffe enthalten sind. Eine Wirksamkeit über Placebo ist auch in Studien insgesamt nicht nachgewiesen. Zwei immer wieder zitierte Studien zeigten eine Placeboüberlegenheit am zweiten Behandlungstag, deren Signifikanz aber im Laufe der weiteren Behandlung wieder verschwand. Beide Arbeiten sind älteren Datums und wurden von verschiedener Seite als von niedriger Qualität bezeichnet. Sämtliche Cochrane Reports, die auch diese beiden Studien berücksichtigten, kamen nicht zu dem Ergebnis, dass eine Placeboüberlegenheit von Oscillococcinum® belegt sei. Eine vorbeugende Wirksamkeit konnte in keiner Studie nachgewiesen werden.
Diese Einschätzung teilte auch die Carstens-Stiftung:[16]
Derzeit muss es als zweifelhaft angesehen werden, dass Oscillococcinum® bei grippalen Effekten über Placeboeffekte hinaus wirkt.
Speziell zu den beiden Studien von Ferley et al. und Papp et al. schrieb die Carstens-Stiftung:
Die beiden auswertbaren Studien ergaben nach zwei und drei (aber nicht nach vier) Tagen eine stärkere (statistisch signifikante) Symptomverbesserung in der Oscillococcinum-Gruppe im Vergleich zur Placebogruppe. Dieses Ergebnis kann aber nicht als gesichert angesehen werden, da beide Studien von niedriger Qualität waren.
Weitere Meldungen im Zusammenhang mit Oscillococcinum®
Die Arzneimittelbehörde Swissmedic kritisierte angesichts dieser Beleglage schon 2011 in einem Newsletter, dass Oscillococcinum® selbst von Fachpersonen vermehrt zur homöopathischen Grippeimpfung empfohlen wurde. Solche Empfehlungen seien irreführend und für Risikopersonen gesundheitsgefährdend.[17]
2012 strebte Boiron vor Gericht nach einer Sammelklage wegen irreführender Werbung u.a. auch für Oscillococcinum® einen Vergleich an, um ein Urteil zu vermeiden und zahlte fünf Millionen US-Dollar an unzufriedene Kunden zurück.[18][19]
Quellen- und Literaturangaben |
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Anmerkungen und Originalzitate |
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