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Scientabilität
Scientabilität beschreibt die Eignung einer medizinischen Maßnahme für die Wirksamkeitsprüfung in klinischen Studien. Eine Maßnahme ist demnach scientabel, wenn ihre Wirksamkeit in klinischen Studien überprüft werden kann. Nicht scientabel dagegen sind Maßnahmen wie die Homöopathie, die sicheren Erkenntnissen widersprechen und für die klinische Studien deshalb keine Aussagekraft besitzen. Klinische Studien sollten bei nicht scientablen Maßnahmen unterbleiben. Das Konzept der Scientabilität schließt an die Bayes-Formel an, wonach die a-priori-Plausibilität einer Behauptung in die Interpretation eines Versuchsergebnisses einbezogen werden sollte. Das Konzept der Scientabilität, das auf den Medizinjournalisten Christian Weymayr zurückgeht [1], ist innerhalb der Evidenzbasierten Medizin, der Skeptiker-Bewegung und unter Anhängern der Homöopathie umstritten.
Inhaltsverzeichnis
A-priori-Plausibilität und Evidenzbasierte Medizin
Nach der Methodik der Evidenzbasierten Medizin (EbM) prüft die klinische Forschung sowie die Versorgungsforschung „die Wirksamkeit von Methoden und Programmen auch dann, wenn ihre Wirkmechanismen unbekannt, unsicher oder umstritten sind“.[2] Dies widerspricht dem Bayes-Prinzip, wonach Hintergrundwissen über die a-priori-Wahrscheinlichkeit bzw. Plausibilität eines Ereignisses - etwa dass es geistartige Arzneikräfte gibt - in die Interpretation von Testergebnissen einfließen muss.[3] Auch andere haben bereits auf diese Schwäche der EbM hingewiesen: Der „blinde Fleck der EbM“ habe zur Infiltration der akademischen Medizin mit Quacksalberei direkt beigetragen,[4] weshalb die EbM-Evidenzhierarchie für alternativmedizinische Verfahren nicht geeignet sei.[5] Es wurde vor der „falschen Toleranz“ gewarnt, die Sektierern den Weg ebne,[6] und ein RCT[B 1] mit Lösemittel versus unendliche Verdünnung als „ein Glücksspiel zwischen zwei Placebos“[B 2] bezeichnet.[7]
Klinische Studien zur Homöopathie
Dennoch wurden gemäß der Forderung der EbM bislang zahlreiche klinische Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel unternommen. Etliche Studien und Übersichtsarbeiten konnten keine spezifische Wirksamkeit belegen.[8][9] Doch selbst in angesehenen Fachorganen sowie von Organisationen wie der Cochrane Collaboration wurden auch Studien und Reviews publiziert, die zu dem Schluss kommen, dass homöopathische Arzneien über den Placebo-Effekt hinaus wirken können und die weitere klinische Studien fordern.[10][11][12] Solche positiven Studien waren zu erwarten: Bei einem 95%-Konfidenzintervall liefert zwangsläufig jede 20. Studie vermeintlich signifikant positive Ergebnisse,[13] und ein publication bias verstärkt diesen Effekt noch. Zudem sind Studien per se fehleranfällig.[14]
Plausibilität der Homöopathie
Das entscheidende Paradigma der Homöopathie hat ihr Begründer Hahnemann so formuliert:
"Die homöopathische Heilkunst entwickelt zu ihrem besonderen Behufe die inneren, geistartigen Arzneikräfte der rohen Substanzen … durch Reiben und Schütteln …".[15]
Erkenntnisse der Naturwissenschaften - wie etwa das Dosis-Wirkungsprinzip,[16] das Fehlen eines ausreichend stabilen „Gedächtnisses“ von Flüssigkeiten[17] (siehe Artikel „Wassergedächtnis“) und das zweite Gesetz der Thermodynamik[18] - schließen geistartige Arzneikräfte aus. Wenn jedoch keine geistartigen Heilkräfte existieren, können Homöopathika auch nicht spezifisch wirken. Diese Aussage kann als „sichere Erkenntnis“ bezeichnet werden. Sie kann nur von Versuchen, Experimenten oder Studien in Frage gestellt werden, die selbst in der Lage sind, aufgrund ihrer Fehlerrobustheit sichere Erkenntnisse zu liefern.
Forderung der Scientabilität
Aus den beiden dargestellten Aussagen „klinische Studien sind per se fehleranfällig, positive Ergebnisse sind aus statistischen Gründen zu erwarten“ und „homöopathische Arzneimittel widersprechen sicheren Erkenntnissen“ folgt, dass klinische Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit homöopathischer Arzneien irrelevant sind. Die mitunter heftig geführten Diskussionen über die Ergebnisse einzelner klinischer Studien und Reviews sind demnach hinfällig. Da irrelevante Studien keinen Nutzen haben, sie jedoch schaden können, indem sie etwa die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft untergraben, sollen klinische Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Arzneien unterbleiben. Das Konzept der Scientablität besagt: Medizinische Maßnahmen sollen nur dann in klinischen Studien untersucht werden, wenn sie sicheren Erkenntnissen nicht widersprechen. Eine medizinische Maßnahme ist demnach scientabel, wenn sie sicheren Erkenntnissen nicht widerspricht.
Scientabilität im medizinischen Alltag
In der Praxis der Gesundheitsversorgung wird die a-priori-Plausibilität einer Maßnahme und damit das Grundkonzept der Scientabilität bereits vielfach befolgt:
- Die chemische Pharmaindustrie entwickelt ihre Präparate grundsätzlich nach dem Prinzip, dass nur Substanzen mit positiven Ergebnissen aus Zellkultur- und Tierversuchen in die klinische Erprobung gelangen. Ohne solche Ergebnisse werden weitere Entwicklungen als sinnlos angesehen.
- Wenn eine neue Methode für eine Studie nach §137 Sozialgesetzbuch (SGB) V Unterstützung vom GBA[B 3] bekommen möchte, muss sie ein „Potenzial“ für eine spätere Anwendung zeigen. In der Begründung dazu heißt es, dass das Potenzial einer Methode „aufgrund ihres Wirkprinzips und der bisher vorliegenden Erkenntnisse“ bewertet wird. Es muss sich also um eine wissenschaftlich begründete Methodik handeln.[19]
- Jeder toxikologische Grenzwert setzt das Dosis-Wirkungsprinzip voraus und schließt eine Schadwirkung jenseits der Naturwissenschaft aus, was auch für die Zulassung homöopathischer Arzneien gilt. Andernfalls müssten beispielsweise Kläranlagen, die ähnlich dem homöopathischen Potenzieren Substanzen in wässriger Lösung rühren und schütteln, als unkalkulierbare Quellen geistartiger Wirkkräfte präventiv geschlossen werden.
- Auch innerhalb der Methodik der EbM lassen sich Ansätze erkennen, dass sich klinische Studien auf positive Ergebnisse aus niederen Evidenzebenen stützen sollten. Die CONSORT-Checkliste beispielsweise, von Fachzeitschriften als Referenzstandard für die Berichtsqualität von RCTs akzeptiert,[20] führt unter 2a auf: „Wissenschaftlicher Hintergrund und Erläuterung der Gründe: … Die Autoren sollten … eine plausible Erklärung vorschlagen, wie die Eingriffe funktionieren könnten, wenn dies nicht offensichtlich ist“.[B 4][21]
- Es gehört zu den ethischen Prinzipien der EbM, keine unnötigen Studien durchzuführen. Das gilt auch für den Fall, wenn ein Mittel, wie etwa Nimodipin bei Schlaganfall-Patienten, bereits bei richtiger Auswertung der Tierversuche keine Wirksamkeit zeigt.[22]
- Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es letztlich in der EbM um die bestmögliche Evidenz geht. So bedeutet EbM „keineswegs die Lehre von der doppelblind-randomisierten Studie, sondern die Suche nach der bestmöglichen Wahrheit, wie wir sie im Augenblick erkennen, …“.[23] Eine sichere Erkenntnis gibt die Wahrheit bestmöglich wieder.
Operationalisierung der Scientabilität
Offen ist, wie eng die Kriterien für eine Scientabilitäts-Prüfung zu fassen sind. Folgende abgestufte Fragen ließen sich an das zu untersuchende Verfahren oder an die Substanz stellen:
- Ist eine spezifische Existenz des Wirkprinzips nachgewiesen? Im Fall der Homöopathie könnte dies auf die einfache Forderung nach einer Analysemöglichkeit der potenzierten Arzneien hinauslaufen.
- Ist eine Wirkung nachgewiesen? Das Verfahren oder die Substanz müssten einen reproduzierbaren Effekt auf Zellkulturen haben.
- Ist eine physiologische bzw. physiologisch relevante Wirkung plausibel? Für das Verfahren oder die Substanz müsste plausibel dargelegt werden, dass sie im menschlichen Organismus irgendeine bzw. eine relevante Wirkung erzielen könnten.
Kritik an der Scientabilität
Die bereits von medizinischen Fachzeitschriften geäußerte Forderung, die a-priori-Plausiblität einer Maßnahme bei der Bewertung der Studienergebnisse zu berücksichtigen [24], hat in die Methodik der Evidenzbasierten Medizin keinen Einzug gehalten. Auch das Konzept der Scientabilität stößt - neben Zustimmung - auf vielfache Kritik. So bezeichnen Walach und Fischer jede Behauptung einer Nichtexistenz - in diesem Falle die Nichtexistenz geistartiger Wirkkräfte - als „Treppenwitz der Wissenschaftsgeschichte“.[25] Linde unterstellt dem Konzept der Scientabilität „macht- und medienpolitische“ Motive, aus denen heraus Forschung „rechtzeitig verhindert“ werden solle, damit keine „Diskussionen innerhalb der Wissenschaft“ entstünden.[26] Hübner favorisiert das quantitative Argument, dass „keine weiteren Studien erforderlich“ seien.[27] Raspe hält RCTs zwar für störanfällig, er möchte aber am bisherigen Vorgehen festhalten, Homöopathiestudien zu überprüfen. Wenn die Studien als „body of evidence“ diese Prüfung überstünden, wäre er auch bereit, die „Kausalerklärungen der Homöopathie zu akzeptieren“ oder „andere Wissenschaftstraditionen als der naturwissenschaftlichen“ zur Erklärung heranzuziehen.[28] In einer Erwiderung ging Weymayr auf die Kritikpunkte ein. [29]
Ausblick
Da sich der Begriff „Scientabilität“ nicht durchgesetzt hat, wird er auch von Weymayr nicht weiter aktiv verwendet. Folgende Aspekte des Konzepts haben jedoch weiterhin Bestand:
- Die a-priori-Plausibilität einer Maßnahme muss in die Interpretation von Studienergebnissen einfließen, da die Wahrscheinlichkeit, dass per se fehleranfällige Studien zu einer plausiblen Maßnahme korrekt-positive Ergebnisse liefern, größer ist, als Studien zu einer unplausiblen Maßnahme.
- Daraus folgt: Bei Maßnahmen wie der Verwendung homöopathischer Mittel, deren a-priori-Plausibilität praktisch null ist, ist die Aussagekraft klinischer Studien zur Wirksamkeit ebenfalls praktisch null.
- Daraus folgt: Es spielt keine Rolle, ob Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Mittel positive oder negative Ergebnisse erbringen.
- Daraus folgt: Eine Diskussion über Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Mittel ist sinnlos.
- Daraus folgt: Neue Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Mittel sind ebenfalls sinnlos.
- Vermeintlich positive Ergebnisse von Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Mittel werden von Befürwortern der Homöopathie als wissenschaftliche Belege für deren Nutzen verwendet. Daraus und aus dem vorher Gesagten folgt, dass solche Studien unterbleiben sollen.
Quellen- und Literaturangaben |
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Anmerkungen und Originalzitate |
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