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Empfindungsmethode nach Sankaran
Die Homöopathie besteht längst nicht mehr aus einem einzigen einheitlichen therapeutischen Ansatz, der von allen Homöopathen gleichermaßen verwendet wird. Heute existieren zahlreiche Formen der Homöopathie nebeneinander.[1] Eine allgemeine Richtlinie oder Empfehlungen, welches Grundkonzept der Homöopathie angewendet werden soll, gibt es nicht. Verschiedene Therapeuten vertreten hier teils diametral entgegengesetzte Standpunkte. Einem homöopathisch behandelten Patienten kann deshalb immer passieren, dass ihm ein anderer homöopathisch arbeitender Therapeut sagt, das bisher angewendete Verfahren sei gar keine „echte Homöopathie“ gewesen.
Die Empfindungsmethode nach Rajan Sankaran gehört zu diesen Varianten der Homöopathie und hier wiederum zu denjenigen Strömungen, die sich als Weiterentwicklung der Anweisungen Samuel Hahnemanns verstehen, indem sie mit mindestens einem der von Hahnemann eingeführten Prinzipien brechen.
Die Empfindungsmethode ist eine relativ junge Variante der Homöopathie, die erst seit den 1980ern von dem indischen Homöopathen Rajan Sankaran entwickelt und durch rege Vortragstätigkeit weltweit bekannt gemacht wurde.[2] Sankaran fügt die „Reiche“ und die „sieben Ebenen einer Krankheit“ zu Hahnemanns Vorstellungen hinzu, deutet die Miasmenlehre um und erweitert den Kanon von ursprünglich drei Miasmen auf zehn. Auch Sankarans Vater, Pichiah Sankaran, praktizierte und lehrte Homöopathie.
Inhaltsverzeichnis
Kernaussagen
Sankaran setzt an der Interpretation von Hahnemanns Ähnlichkeitsprinzip und seiner praktischen Umsetzung an: Wie soll der Homöopath das dem Leiden des Patienten „ähnlichste“ Mittel bestimmen und wie soll er fortfahren, wenn (zumindest zunächst) die Fallanalyse mehrere Mittel nahelegt?
Er geht davon aus, dass die Krankheit des Patienten von einer zentralen Empfindung durchdrungen ist, die diesen ganzen Menschen in seiner Wahrnehmung, in seinen Worten und Gesten, in den von ihm gewählten Metaphern und seinen Träumen prägt.[2][3] Diese zentrale Empfindung macht Sankaran zum namensgebenden Kern seiner Methode und nennt sie Vitalempfindung.
Die Anamnese ist vom Homöopathen folglich in einer Weise zu führen, dass dieser das zentrale Empfindungsmotiv des Patienten erkennt. Laut Sankaran zieht sich die Vitalempfindung nicht nur durch körperliche und psychische Symptome, sie sei auch in der Körpersprache nachweisbar und darin, welche Eindrücke ein Patient von seiner Umwelt bekommt. Sankaran geht davon aus, dass jeder Mensch in seiner Umwelt nur wahrnimmt, worauf er in sich eine „Resonanz“ spürt. Für die Anamnese ist deshalb auch von Bedeutung, in welcher Weise der Patient seine Träume, aber auch Filme oder Bücher schildert.[4][2]
Sankaran sieht die „Vitalempfindung“ als Schnittstelle zwischen dem körperlichen Befinden des Patienten, seinem seelischen Zustand und der zu ermittelnden Arznei.[2] Der Charakter als Schnittstelle werde darin deutlich, dass der Patient seine Vitalempfindung auf geistiger, seelischer und körperlicher Ebene in derselben Weise wahrnehme und mit denselben Worten beschreibe.[5] Diese Übereinstimmung müsse auch für das zu bestimmende Mittel gelten. Sankaran bezeichnet deshalb das dem Patienten zuzuordnende Mittel auch als „das andere Lied“ – und versteht darunter die „Energie“, die der Patient benötigt, um seiner vorgezeichneten menschlichen Bestimmung folgen zu können.[2] Diesen Namen – the other song – hat Sankaran auch seiner Klinik mit angeschlossenem Schulungsprogramm gegeben.[6]
Die „Ebenen“ einer Erkrankung
Ganz ohne Entsprechung im Organon steht Sankarans Modell der „Sieben Ebenen einer Erkrankung“ (levels of experience), das er in die homöopathische Anamnese einführt.
Der ersten Ebene entspricht dabei der Name der Krankheit, der zweiten die Symptome und Details der Krankheit (wie Lokalsymptome und lokale Empfindungen). Die dritte Ebene bilden die Gefühle und Emotionen; die vierte Ebene nennt Sankaran die „Wahnidee“.[3] Diese Wahnidee ist ein zentraler Begriff bei Sankaran. Er versteht darunter die Erlebnisverarbeitung und Umweltwahrnehmung des Patienten: Mit der Wahnidee ist die Deutung des Patienten gemeint, nicht seine reale Umwelt. Ein Patient kann sich ausgebeutet fühlen oder meinen, ihm platze der Schädel, auch wenn das in der Realität nicht der Fall ist. Auch Träume und Ziele des Patienten fallen unter diesen Begriff.[5] Auf der fünften Ebene sei die Vitalempfindung des Patienten zu erkennen; die sechste Ebene ist der immateriellen Energie zugeordnet, die siebte dem Nichts und dem höheren Sinn.
Ebene | Bedeutung nach Sankaran[7][2] |
Ebene 1 | Name der Erkrankung: das Erleben des Patienten ganz auf der Ebene der ihm mitgeteilten Diagnose |
Ebene 2 | Faktische Symptomatik der Erkrankung: lokale Details, nur in einem Körperteil auftretende Empfindungen und Symptome |
Ebene 3 | Emotion, Gefühl: Gefühlswelt des Patienten in der Erkrankung; betrachtet werden vor allem Ärger, Wut, Freude und Trauer |
Ebene 4 | Wahnidee: Ebene der Erlebnisverarbeitung, Patient schildert seine Wahrnehmung der Erkrankung in „als ob“-Bildern und Metaphern |
Ebene 5 | Vitalempfindung: Erleben der Erkrankung als Spiegel des Bedeutsamen im Leben des Patienten |
Ebene 6 | Energie: immaterielle Ebene, die Energie des Patienten in Gestik, Bewegungen und Lauten ausgedrückt |
Ebene 7 | Namenlose Ebene: Schlaf, Koma, Tod als Ausdruck des Nichts |
Sankaran sieht die siebte Ebene als die tiefste Ebene. Jede Ebene soll auf der darunterliegenden aufbauen; so folgen beispielsweise die Gefühlswelt des Patienten und sein emotionales Erleben der Erkrankung (Ebene 3) aus seiner Wahnidee (Ebene 4).[7] Die Vitalempfindung sei bei richtig durchgeführter Anamnese auf allen diesen Ebenen zu erkennen. Die Trefferwahrscheinlichkeit für das richtige Mittel sei aber umso höher, je höher die Ebene ist, auf der eine Ähnlichkeit zwischen den Empfindungen des Patienten und den Symptomen des Mittels gefunden werden kann.
Auch die Wahl der zu verordnenden Potenz macht Sankaran an diesen Ebenen fest.
Chronische Krankheiten
Sankarans Vorgehensweise bei chronischen Erkrankungen ist dadurch inspiriert, dass Computerprogramme gewisse Gemeinsamkeiten in den Prüfsymptomen einzelner Pflanzenfamilien auflisten.[2] Darauf aufbauend teilt er alle homöopathischen Arzneien in „Reiche“ (Pflanzenreich, Mineralreich, Tierreich, Nosoden, Imponderabilien), Unterreiche und Familien ein. Diesen werden die Vitalempfindungen des Patienten zugeordnet. Nach Sankaran haben also Patienten, die ein Mittel aus einem der „Reiche“ benötigen, bestimmte Gemeinsamkeiten.
So geht er beispielsweise davon aus, dass bei Patienten, die ein Mittel aus dem „Mineralreich“[8] benötigen, Begriffe wie „Struktur“ oder „Funktion“, „Mangel“ oder „Auseinanderbrechen“ im Vordergrund stehen, während Patienten, die ein Mittel aus dem „Tierreich“ benötigen, eher von Konkurrenzdenken geprägt sind. Das „Pflanzenreich“ steht grundsätzlich für Empfindsamkeit (Vorstellung: eine Pflanze muss sich nach ihrer Umgebung ausrichten).[9]
Sind aus einem Reich – beispielsweise einer Pflanzen- oder Tierfamilie oder auch bestimmten Mineralien – bereits einige charakteristische Symptome zugeordnet, dann gehen Sankaran und seine Nachfolger durchaus davon aus, bei weiteren Mitteln aus derselben Gruppe auf die dadurch abgedeckten Symptome auch ohne Arzneimittelprüfung schließen zu können.[10] Bei Mineralkombinationen (wie beispielsweise Calcium fluoratum (CaF2)) lehnt er sich an die Lehre Jan Scholtens an, kommt aber zu ganz anderen Schlussfolgerungen.
Das Miasma (griech. übler Dunst, Verunreinigung, Befleckung, vorwissenschaftliche Basis einer Lehre über Krankheitsverursachung und -übertragung) ist neben der Vitalempfindung bei der Sankaran-Methode ebenfalls von großer Bedeutung. Sankaran versteht den Begriff aber anders als er in den Chronischen Krankheiten[11] von Hahnemann verwendet wird, auch hat er den Kanon der Miasmen deutlich erweitert. Bei Sankaran ist das Miasma nicht durch die körperlichen Symptome erkennbar, sondern durch vom Patient verwendete Schlüsselworte oder in der Lebensgeschichte des Patienten. Sankaran sieht im Miasma also eher die Umweltwahrnehmung und resultierende Bewältigungsstrategie des Patienten.[5]
Sankaran beschreibt insgesamt zehn Miasmen statt der ursprünglich von Hahnemann formulierten drei. Neben der Psora, der Sycosis und der Syphilis beschreibt Sankaran noch das „akute Miasma“, das „typhoide Miasma“, „Malaria-Miasma“, „Ringworm-Miasma“, „Krebs-Miasma“, „tuberkulines Miasma“ und „Lepra-Miasma“.[2] Kennzeichnend für ein Miasma ist dabei für ihn aber nicht, dass der Patient die jeweilige Krankheit tatsächlich hat, sondern sich entsprechend seiner Vorstellung von dieser Krankheit empfindet und beschreibt: Das Lepra-Miasma wird zum Beispiel Schlüsselwörtern zugeordnet wie „Verzweiflung“, „Abscheu“, „Unterdrückung“, „Ausgestoßenheit“ und dem Gefühl, „wie ein Lepra-Kranker“ ausgegrenzt zu sein. Jedem einzelnen dieser Miasmen sind in dieser Weise typische Schlüsselwörter und diesen wiederum typische Arzneien zugeordnet, die zur Behandlung der jeweiligen chronischen Beschwerden einzusetzen sind.[2]
Eingesetzte Potenzen
Nach Sankaran ist die homöopathische Potenz der „Ebene der Energie“ anzupassen, auf der der Patient seine „Vitalempfindung“ im Alltag erlebt. Auch eine Abneigung des Patienten, diese zentrale Empfindung in einer nächsthöheren Ebene auszudrücken, kann nach Sankaran ein Hinweis darauf sein, auf welcher Ebene der Patient sich befindet. Je niedriger diese Ebene ist, desto niedriger ist auch die Potenz zu wählen. So beginnt die Methode mit Verordnung der C6 für Ebene 1, C30 für Ebene 2 und erreicht mit 10 M für Ebene 5 auch Ultrahochpotenzen.[12]
Daneben ist Sankaran auch dazu übergegangen, dem Patienten überhaupt keine homöopathische Arznei zu geben, sondern ihm nach der Anamnese seine „Wahnidee“ vorzuhalten. Dieses Vorgehen wird von Sankaran und seinen Anhängern mitunter als „Homöopsychotherapie“ bezeichnet.[13]
Kritik durch andere Homöopathen
Die von Rajan Sankaran geschaffenen Abweichungen von Hahnemann wurden von verschiedenen Homöopathen scharf kritisiert. So bezeichnete beispielsweise Roland Methner in der Homöopathischen Zeitung[13] Sankarans Konzentration auf die Wahnidee als „einseitig“ und die Umdeutung der Miasmenlehre als eine „Entwertung der Idee“.[13]
Für Methner stellt es zudem eine unzulässige Verallgemeinerung von Hahnemanns Ähnlichkeitsprinzip dar, wenn Sankaran Arzneien aufgrund oberflächlicher Ähnlichkeiten den von ihm definierten Reichen fest zuordnet, allein auf Basis bestenfalls weniger, willkürlich gewählter Symptome. Er setzt dieses Vorgehen mit der heute nur noch in der Esoterik verbreiteten Signaturenlehre[B 1] gleich.[B 2]
Georgos Vithoulkas wertete willkürliche Interpretationen der Homöopathie – wie die von Sankaran – als „Mischmasch“[13] und vertrat die Ansicht:
Sankaran allein hat der Homöopathie mehr geschadet als alle Feinde der Homöopathie zusammen.[B 3][14]
Andere Homöopathen sehen schwere methodische Fehler in der Art, wie Sankaran das „ähnlichste Mittel“ bestimmt oder halten seine Einteilung in Reiche in keiner Weise durch die Materia medica[B 4] abgedeckt.[14]
Während Sankaran behauptet, mit seiner Methode das Simile (also das „ähnlichste“ Mittel) treffsicherer wählen zu können, verweisen andere Homöopathen auf die Einzelfallberichte von Hahnemann, Clemens von Bönninghausen und anderen Zeitgenossen Hahnemanns und sehen die höchstmögliche Erfolgsquote bereits in diesen historischen Schilderungen erreicht.[13] Auf wissenschaftliche Evidenz können sich hierbei beide Seiten nicht berufen.
Quellen- und Literaturangaben |
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Anmerkungen und Originalzitate |
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