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Genuine Homöopathie
Die Homöopathie besteht längst nicht mehr aus einem einzigen einheitlichen therapeutischen Ansatz, der von allen Homöopathen gleichermaßen verwendet wird. Heute existieren zahlreiche Formen der Homöopathie nebeneinander.[1] Eine allgemeine Richtlinie oder Empfehlungen, welches Grundkonzept der Homöopathie angewendet werden soll, gibt es nicht. Verschiedene Therapeuten vertreten hier teils diametral entgegengesetzte Standpunkte. Einem homöopathisch behandelten Patienten kann deshalb immer passieren, dass ihm ein anderer homöopathisch arbeitender Therapeut sagt, das bisher angewendete Verfahren sei gar keine „echte Homöopathie“ gewesen.
Die genuine Homöopathie[B 1] gehört zu diesen Varianten der Homöopathie und hier wiederum zu denjenigen Strömungen, die sich als direkte Umsetzung der Anweisungen Samuel Hahnemanns verstehen.
Inhaltsverzeichnis
Überblick und Historisches
Genuin bedeutet ursprünglich „original, echt“. Die von ihren Vertretern so bezeichnete „genuine Homöopathie“ versteht sich entsprechend als Rückbesinnung auf die Anweisungen Samuel Hahnemanns, wie er sie im Organon der Heilkunst hinterlassen hat.[2] Die „genuinen Homöopathen“ sehen sich als die Verfechter der reinen Lehre nach Samuel Hahnemann und grenzen sich von anderen Strömungen der Homöopathie ab.[3] Sie kritisieren dabei auch die Vertreter der „klassischen Homöopathie“ wie beispielsweise James Tyler Kent, weil sie in deren Aussagen deutliche Abweichungen von den Vorgaben Hahnemanns sehen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Homöopathie im deutschsprachigen Raum nur wenig verbreitet. Homöopathen wie Pierre Schmidt machten sie hierzulande ab den 1950ern jedoch wieder populär. „Genuin“ arbeitende Homöopathen weisen heute darauf hin, dass dabei Entwicklungen aus den USA (wie eben der Einfluss Kents) mit übernommen wurden, ohne dass man ausreichend untersuchte, inwieweit diese Lehren noch im Einklang mit Hahnemanns Schriften waren.[3] Die genuine Homöopathie ist entsprechend eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, besonders seit den 1980er Jahren und vor allem im deutschsprachigen Raum.[3]
Wichtige Vertreter dieser Strömung sind Will Klunker, Georg von Keller und Uwe Plate.[2] Klunker prägte 1998 in einem Vortrag den Begriff „Hahnemanns genuine Homöopathie“[3] und wendete sich vor allem gegen die in seinen Augen in der „klassischen“ Homöopathie praktizierte Überbetonung der Geistes- und Gemütssymptome. Georg von Keller propagierte die Arzneifindung über die Materia medica und nicht (allein) über die Repertorien. Von dem Heilpraktiker Uwe Plate stammt das zentrale Werk der genuinen Homöopathie, das Symptomenlexikon.[4][2][5]
Die genuine Homöopathie versteht sich als geeignetes Verfahren für alle Krankheitszustände des Patienten.[2]
Kernaussagen
Die genuine Homöopathie betrachtet die Symptome des aktuellen Krankheitszustandes als Grundlage der Mittelfindung und beruft sich hierbei auf § 6 des Organons (Hervorhebung durch Homöopedia):[2]
Der vorurtheillose Beobachter, - die Nichtigkeit übersinnlicher Ergrübelungen kennend, die sich in der Erfahrung nicht nachweisen lassen, - nimmt, auch wenn er der scharfsinnigste ist, an jeder einzelnen Krankheit nichts, als äußerlich durch die Sinne erkennbare Veränderungen im Befinden des Leibes und der Seele, Krankheitszeichen, Zufälle, Symptome wahr, das ist, Abweichungen vom gesunden, ehemaligen Zustande des jetzt Kranken, die dieser selbst fühlt, die die Umstehenden an ihm wahrnehmen, und die der Arzt an ihm beobachtet. Alle diese wahrnehmbaren Zeichen repräsentiren die Krankheit in ihrem ganzen Umfange, das ist, sie bilden zusammen die wahre und einzig denkbare Gestalt der Krankheit.[6]
Die Ähnlichkeit zwischen Beschwerdebild und Arzneimittelbild soll nach der genuinen Homöopathie nur über „Symptomelemente“ und ihr mehrfach kombiniertes Auftreten erkennbar sein. Diese Symptomelemente sind die einzelnen Kategorien eines Symptoms, zum Beispiel die Modalitäten (also unter welchen Umständen sich ein Symptom bessert oder verschlechtert) oder wie der Patient die Beschwerden empfindet (also etwa ob ein Schmerz als stechend, drückend oder ziehend empfunden wird). Für derartige Bestandteile der Symptome verwendet die genuine Homöopathie den Begriff „Zeichen“.[2] Nicht also das Symptom als solches, sondern seine Bestandteile versteht der genuin arbeitende Homöopath als Weg, im Krankheitsbild das „Charakteristische“ zu erkennen und ein Mittel zu wählen, welches in diesen „Zeichen“ dieselbe Charakteristik beinhaltet. Als charakteristisch wird hierbei verstanden, was sich durch Krankheitsbild und/oder Arzneimittelbild „durchzieht“, also in derselben Weise mehrfach auftaucht.
In diesem Vorgehen berufen sich genuin arbeitende Homöopathen vor allem auf die §§ 153 und 154 des Organons (Hervorhebung durch Homöopedia):
Bei dieser Aufsuchung eines homöopathisch specifischen Heilmittels, das ist, bei dieser Gegeneinanderhaltung des Zeichen-Inbegriffs der natürlichen Krankheit gegen die Symptomenreihen der vorhandenen Arzneien um unter diesen eine, dem zu heilenden Uebel in Aehnlichkeit entsprechende Kunstkrankheits-Potenz zu finden, sind die auffallenden, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles, besonders und fast einzig fest in’s Auge zu fassen…[7]
Nach Kent und in der klassischen Homöopathie werden Geistes- und Gemütssymptome bei der Arzneiwahl höher gewichtet als körperliche Allgemeinsymptome und diese höher als lokale Symptome. Dieser Hierarchie folgt die genuine Homöopathie nicht. Hier ist für die Wahl des Mittels das Finden der auffälligsten „Zeichen“ ausschlaggebend.
Auch bei der Beurteilung der Arzneimittelbilder orientieren sich genuin arbeitende Homöopathen streng an Hahnemann und seiner Forderung nach Arzneimittelprüfungen am Gesunden: Ausschließlich die Ergebnisse von Arzneimittelprüfungen sollen eine solide Basis für die Arzneimittelwahl liefern, weil man nur so das „ähnliche Leiden“,[8] wie es Hahnemann in der Einleitung des Organons beschreibt, erkennen kann. Symptome, die allein aus der klinischen Beobachtung Kranker stammen, werden für die Arzneifindung als unbrauchbar angesehen. Repertorien[B 2] werden deshalb als einzige Grundlage der Arzneimittelwahl abgelehnt, weil in ihnen nicht ersichtlich ist, ob eine bestimmte Arznei nur wegen einer Verlaufsbeobachtung unter einem bestimmten Eintrag gelistet ist. Auch seien in den dort enthaltenen Rubriken die „Charakteristika“ nicht ausreichend erkennbar. Die Arzneimittelwahl soll deshalb über die Materia medica[B 3] oder Uwe Plates Symptomenlexikon[9] erfolgen.[2] Das Symptomenlexikon basiert auf den Arzneimittellehren Hahnemanns und weiterer Archive, das Ordnungsprinzip sind jedoch die Symptombestandteile, also beispielsweise Empfindungen oder Modalitäten. Verzeichnet ist vor allem ihr gemeinsames Auftreten. Diese Anordnung nach den für die genuine Homöopathie entscheidenden „Zeichen“ soll das Erkennen der charakteristischen Zeichen und Zeichenkombinationen erleichtern.[2]
Beispiel:[2]
Ein genuiner Homöopath würde beispielsweise bei einem Patienten, der über Rückenschmerz klagt, die Beschreibung, es handle sich um brennende Schmerzen, die sich beim Gehen verschlimmern, als das entscheidende charakteristische Zeichen identifizieren.
In der genuinen Homöopathie wird davon ausgegangen, dass diese Kombination von „Brennen“ und „Verschlimmerung beim Gehen“ auf das Simile verweist und dass hierfür jedes Mittel infrage kommt, selbst wenn das Brennen in Arzneimittelprüfungen nicht am Rücken, sondern an einer anderen Körperstelle aufgetreten ist.
Ein Repertorium – wie das von Kent, das man in der klassischen Homöopathie einsetzt – enthält in der Rubrik „Rücken – Brennen“ nur solche Arzneien, bei denen das Brennen eben genau am Rücken vorlag. Im Sinne der genuinen Homöopathie enthält ein Repertorium also nicht alle in Frage kommenden Arzneien. Dagegen enthält es aber ggf. solche, bei denen das Brennen am Rücken nur nach der Einnahme des Mittels verschwand, aber nie in Arzneimittelprüfungen auftrat. Seine Benutzung kann aus beiden Gründen im Bild der genuinen Homöopathie zur Wahl des falschen Mittels führen.
Das Therapeutische Taschenbuch, das Bönninghausen zur Wahl des Mittels benutzte, kann jedoch ebenfalls zu einer aus Sicht der genuinen Homöopathie falschen Arzneimittelwahl führen, weil aus ihm die Kombinationen der Zeichen nicht ersichtlich sind. Es enthält nur die einzelnen Rubriken „Brennen“ und „Gehen verschlimmert“, doch können unter diesen Rubriken auch gemeinsame Mittel aufgeführt sein (z. B. Calcium carbonicum), die die charakteristische Kombination „Brennen verschlimmert beim Gehen“ dann eben doch nicht im Arzneimittelbild haben.
Nur im Symptomenlexikon sind diese Kombinationen ersichtlich.
Behandlung chronischer Krankheiten
In seinem zweiten Hauptwerk „Die chronischen Krankheiten, ihre eigenthümliche Natur und homöopathische Heilung“ führt Hahnemann alle chronischen Krankheitsbilder auf „Miasmen“ zurück. Er versteht darunter „Urübel“, die chronischen Beschwerden letztlich zugrunde liegen. Hahnemann nennt drei Miasmen, nämlich Psora (Krätze), Sykose (Feigwarzenkrankheit oder Gonorrhoe, umgangssprachlich auch „Tripper“) und Syphilis.
In der genuinen Homöopathie werden diese Miasmen aber anders verstanden als in der klassischen Homöopathie. Dort werden die Miasmen als pathologische Prozesse interpretiert. Genuine Homöopathen weisen jedoch darauf hin, dass Hahnemanns chronisch erkrankte Patienten eine der zu seiner Zeit gar nicht so seltenen Krankheiten Psora, Sykose und Syphilis in aller Regel tatsächlich durchgemacht hatten. Deshalb werden Hahnemanns Miasmen in der genuinen Homöopathie als echte Infektionstheorie gesehen, nicht als etwas, was in die Krankheitsgeschichte hineininterpretiert wird. So schreibt Hahnemann in den Chronischen Krankheiten:[10]
In ihrem vollkommnen Zustande nämlich, das ist, so lange der das innere Siechthum beschwichtigende, ursprüngliche Ausschlag auf der Haut noch vorhanden ist, lässt sich die ganze Krankheit, die Psora, am leichtesten, schnellsten und sichersten heilen. Ist sie aber durch Vernichtung dieses anfänglichen Haut-Ausschlags, welcher für das innere Siechthum stellvertretende Kraft besitzt, beraubet worden, so ist die Psora in den naturwidrigen Zustand versetzt, einseitig bloß die innern, feinsten Theile des ganzen Organismus zu beherrschen und ihre sekundären Symptome entwickeln zu müssen.
Zur Behandlung chronischer Krankheiten werden nach § 208 des Organons[11][B 4] zunächst Heilungshindernisse aus der Lebensweise des Patienten beseitigt. Danach wird in der normalen Weise aus dem aktuellen und tatsächlichen Krankheitsbild das Charakteristische (§ 209[12][B 5]) herausgearbeitet und so über das Ähnlichkeitsprinzip das Simile bestimmt; allerdings unter Benutzung der Arzneimittellehre aus Hahnemanns Chronischen Krankheiten.[2]
In der genuinen Homöopathie geht man davon aus, dass die so erfolgte Behandlung der aktuellen „Zeichen“ automatisch die Behandlung der zugrundeliegenden Miasmen mit einschließt.[2] Verändern sich im Verlauf der Behandlung der chronischen Erkrankung die aktuellen Symptome, so wird entsprechend ein neues Mittel passend zur veränderten, dann aktuellen Symptomatik bestimmt.[2] In diesem Vorgehen unterscheidet sich die genuine Homöopathie deutlich von der klassischen Homöopathie, die chronische Beschwerden mit dem einen Konstitutionsmittel behandelt, das nicht der aktuellen Symptomatik, sondern seiner ganzen Krankengeschichte und Persönlichkeit entsprechend gewählt wird.
Eingesetzte Potenzen
In der genuinen Homöopathie kommen sowohl hohe C-Potenzen jenseits der Avogadrogrenze zum Einsatz, auch in Form von Korsakow-Potenzen, als auch die erst in der 6. Auflage des Organons beschriebenen Q-Potenzen. Hochpotenzen werden als Einzelgaben verabreicht.[2]
Zusammenfassender Vergleich mit der klassischen Homöopathie
Genuine und klassische Homöopathie unterscheiden sich an neuralgischen Punkten diametral, obwohl sich beide Strömungen auf Hahnemann berufen.
- Beide Methoden bewerten völlig unterschiedlich, was für die Arzneimittelwahl entscheidend ist (sich durchziehende Symptomelemente vs. Gemütssymptome).
- Beide Methoden ermitteln in der Fallanalyse komplett verschieden das Charakteristische des Symptombildes (die aktuellen Krankheitssymptome vs. die gesamte Krankengeschichte des Patienten).
- Beide Methoden werten die Bedeutung der augenscheinlichen aktuellen körperlichen Symptome für die Mittelwahl deutlich unterschiedlich (als „einzig denkbare Gestalt der Krankheit“[6] vs. Endresultat der gesamten Krankheitsgeschichte und ihrer zugrunde liegenden „Urübel“).
- Die Persönlichkeit des Patienten spielt in beiden Verfahren eine gänzlich unterschiedliche Rolle.
- Da die genuine Homöopathie nur Symptome aus Arzneimittelprüfungen zur Anwendung des Ähnlichkeitsprinzips heranzieht, hält diese ein Repertorium als alleinige Grundlage der Mittelwahl für ungeeignet, weil darin auch Symptome aus klinischen Verläufen gelistet sind. Die klassische Homöopathie arbeitet mit Repertorien, oft mit dem Kent'schen Repertorium oder einem daran angelehnten neueren Werk.
- Die genuine Homöopathie wechselt bei der Behandlung chronischer Krankheiten bei einer Veränderung der Symptomatik das Mittel im Zuge einer neuen Anamnese. Die klassische Homöopathie wechselt die Potenz des Konstitutionsmittels.
Quellen- und Literaturangaben |
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Anmerkungen und Originalzitate |
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