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Potenzen
Das lateinische Wort potentia kann mit Vermögen, Kraft, Fähigkeit, Wirkung und Wirksamkeit übersetzt werden, ebenso wie darunter Gewalt, Macht, politische Oberherrschaft oder politischer Einfluss zu verstehen ist. Dementsprechend wird das deutsche Wort Potenz für Begriffe wie Kraft, Macht, Vermögen, Leistungsfähigkeit oder Zeugungsfähigkeit gebraucht, während das davon abgeleitete Wort Potential in Begriffen wie Industriepotential, Kriegspotential, elektrisches Potential u.ä. zu finden ist. Potenzierung bedeutet in diesem Sinn eine außergewöhnliche, nichtlineare Steigerung oder Verstärkung, wie dies beispielsweise in der mathematischen Potenzierung der Fall ist.[1]
Dieser Artikel befasst sich mit den homöopathischen „Potenzen“ und den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften, mit der historischen Entwicklung der einzelnen Potenzreihen, der Problematik der Vergleichbarkeit der einzelnen Potenzen und den daraus resultierenden unaufgelösten inneren Widersprüchen im „Gesamtkunstwerk“ Homöopathie. Der Artikel Potenzieren hingegen befasst sich mit dem Vorgang der Potenzierung aus Sicht der Homöopathie und aus der Sicht der Naturwissenschaften.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Kurzer geschichtlicher Überblick
- 2 Homöopathische Potenzen
- 3 Die Wirkkraft in der Potenz
- 3.1 Wirkkraftfaktoren: Verdünnung und Verschüttelung
- 3.2 Potenzreihe mit C-Potenzen
- 3.3 Potenzreihe mit D- und C-Potenzen
- 3.4 Potenzreihe mit Q-Potenzen (LM-Potenzen)
- 3.5 Potenzreihe mit Q-, D- und C-Potenzen
- 3.6 Wirkkraftbestimmung aufgrund der Wirkdauer
- 3.7 Wirkkraftbestimmung mit Hilfe eines mathematischen Modells
- 4 Potenzen in der Homöopathischen Arzneimittelprüfung (HAMP)
- 5 Innere Widersprüche
- 6 Verunreinigungsproblem
- 7 Die Lehrbarkeit der Homöopathie
- 8 Schlussbemerkung
Kurzer geschichtlicher Überblick
Samuel Hahnemann
Christian Friedrich Samuel Hahnemann wurde am 10.04.1755 in Meißen geboren. Er starb am 02.07.1843 in Paris.
Hahnemann absolvierte das Medizinstudium in Leipzig und promovierte 1779. Er ließ sich als praktischer Arzt nieder, wechselte aber in den ersten 25 Jahren seiner Tätigkeit 20-mal den Wohnort im Gebiet zwischen Dresden und Hamburg-Altona.
Hahnemann war mit der Medizin der damaligen Zeit unzufrieden. Grundlage der Medizin seiner Zeit war die Humoralpathologie, die von Galen gelehrt wurde und die bereits bei Hippokrates ihre erste Erwähnung fand. Die Vier-Säfte-Lehre führt Erkrankungen auf ein falsches Mischungsverhältnis der vier Säfte „Gelbe Galle“, „Schwarze Galle“, „Blut“ und „Schleim“ zurück und behandelte die falsche Mischung durch Ausleitungsverfahren wie z.B. Aderlässe, Abführmittel, Brechmittel und Ähnlichem. Hahnemann erkannte, dass diese Verfahren oftmals größeren Schaden als Nutzen verursachten und wandte sich von ihnen ab.
Im Jahre 1790 wurde er mit der Auffassung des schottischen Pharmakologen Cullen konfrontiert, der die damals in der Malariabehandlung bekannte Wirkung der Chinarinde auf eine Stärkung des Magens zurückführte. Hahnemann widersprach und berichtete, er selbst habe versuchsweise täglich zweimal vier Quentchen „gute Chinarinde“ eingenommen und an sich selbst die gleichen Symptome beobachtet wie bei der Malaria, die damals noch „Wechselfieberkrankheit“ hieß. Diese Beobachtung gilt als das Schlüsselerlebnis für die „Entdeckung“ des Ähnlichkeitsprinzips („Simileprinzip“). Hahnemann hat jedoch nach eigener Aussage die Simile-Regel lediglich wiederentdeckt und anwendbar gemacht; frühere Formulierungen des Ähnlichkeitsprinzips finden sich bei Hippokrates (460 – 370 v. Chr.) – Krankheiten könne man entweder durch Contraria oder Similia behandeln[2] – und bei Paracelsus (1493 – 1541 n. Chr.)[3]
Um die Ähnlichkeitsregel anzuwenden, waren zwei Schritte erforderlich:
- Arzneistoffe mussten an Gesunden geprüft werden, um die Wirkungen zu erfassen und diese zu einem Arzneimittelbild zusammenzustellen.
- Die Dosis bei den zum Teil giftigen Arzneistoffen musste soweit reduziert werden, dass Giftwirkungen garantiert nicht mehr auftraten. (Paracelsus: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.“)[4]
Die Entwicklung der Centesimalpotenzen durch Samuel Hahnemann
In seiner Anfangszeit verwendete Hahnemann die zu seiner Zeit üblichen Gran-Dosen. Als er sah, dass sich unter diesen Dosen die Krankheitszeichen oftmals verschlechterten, verkleinerte er die Dosen durch Verdünnung im Verhältnis 1:100. Feste Arzneistoffe wurden mit Milchzucker (Lactose) verrieben und verdünnt (Trituration), flüssige Arzneistoffe mit flüssigen Arzneiträgern wie zum Beispiel Wasser, reinem Alkohol („Weingeist“) oder Alkohol-Wasser-Gemischen verschiedener Konzentrationen („hochprozentiger Weingeist“), in Einzelfällen auch 85-prozentigem Glycerin (z.B. für Schlangengifte). Heute wird vorwiegend 43-prozentiger Äthylalkohol (Äthanol) verwendet.[5][6]
Hahnemann verwendete zunächst Urtinkturen aus getrockneten Pflanzensäften, die sich gut konservieren ließen. Vor der Verwendung mussten diese getrockneten Pflanzensäfte suspendiert werden. Um eine homogene Lösung zu erhalten, wurden die trüben Suspensionen mit starken Schüttelschlägen auf einer weichen (ledernen) Unterlage bearbeitet.[6]
Im Jahre 1827 beobachtete er bei derartigen Verschüttelungen unerwartet eine Verstärkung der Wirkung und nannte das Verfahren „Arzneikraft-Entwicklung“ oder „Potenzierung“, um deutlich zu machen, dass es sich nicht lediglich um eine Verdünnung handelt, die eine schwächere Wirkung zur Folge haben muss, sondern dass durch das Verschütteln oder Verreiben eine stärkere Wirkung zutage tritt. Über viele Jahre entwickelte er das Verfahren weiter und kontrollierte dabei nicht nur die Verdünnung, sondern auch die Anzahl und Intensität der Schüttelschläge.[7]
Zitat aus Hahnemanns Organon §269:[8]
Die Homöopathische Heilkunst entwickelt zu ihrem besonderen Behufe die innern, geistartigen Arzneikräfte der rohen Substanzen, mittels einer ihr eigenthümlichen, bis zu meiner Zeit unversuchten Behandlung, zu einem früher unerhörten Grade, wodurch sie sämmtlich erst recht sehr, ja unermeßlich – „durchdringend“ wirksam und hülfreich werden1), selbst diejenigen unter ihnen, welche im rohen Zustande nicht die geringste Arzneikraft im menschlichen Körpern äußern. Diese merkwürdige Veränderung in den Eigenschaften auf ihre kleinsten Theile, durch Reiben und Schütteln (während sie mittels Zwischentritts einer indifferenten Substanz, trockener oder flüssiger Art, von einander getrennt sind) entwickelt die latenten, vorher unmerklich, wie schlafend1x) in ihnen verborgen gewesenen, dynamischen (§ 11) Kräfte, welche vorzugsweise auf das Lebensprinzip, auf das Befinden des thierischen Lebens Einfluß haben1xx). Man nennt daher diese Bearbeitung derselben Dynamisiren, Potenziren (Arzneikraft-Entwicklung) und die Produkte davon, Dynamisationen2) oder Potenzen in verschiedenen Graden.
Anmerkungen von Hahnemann:
1) Lange vor dieser meiner Erfindung, waren schon durch die Erfahrungen mehrere Veränderungen bekannt geworden, welche in verschiednen Natur-Substanzen durch Reiben hervorgebracht werden; z.B. Wärme, Hitze, Feuer, Geruchs-Entwicklung in an und für sich geruchlosen Körpern, Magnetisirung des Stahls u. s. w. Doch hatten alle diese, durch Reiben erzeugten Eigenschaften, nur auf das Physische und Leblose Bezug; aber das Natur-Gesetz, nach welchem physiologische und pathogenische, den lebenden Organism in seinem Befinden umändernde Kräfte, in der rohen Materie der Arzneimittel, ja selbst in den, sich noch nie als arzneilich erwiesenen Natur-Substanzen, durch Reiben und Schütteln erzeugt werden doch unter der Bedingung, daß dies mittels Zwischentritts eines unarzneilichen (indifferenten) Mediums in gewissen Verhältnissen geschehe – Dieses wunderbare physische, vorzüglich aber physiologisch-pathogenische Natur-Gesetz, war vor meiner Zeit noch nicht entdeckt worden.
Was Wunder also, wenn die jetzigen Naturkündiger und Aerzte (hiemit noch unbekannt) bisher an die zauberische Heilkraft der, nach homöopathischer Lehre bereiteten (dynamisirten) und in so kleiner Gabe angewendeten Arzneimittel, bisher nicht glaubten!
1x) So ist auch in der Eisen-Stange und dem Stahl-Stabe eine im Innern derselben schlummernde Spur von latenter Magnet-Kraft nicht zu verkennen, indem beide, wenn sie nach ihrer Verfertigung durch Schmieden aufrecht gestanden haben, mit dem untern Ende den Nordpol einer Magnet-Nadel abstoßen und den Südpol anziehen, während ihr oberes Ende sich an der Magnet-Nadel als Südpol erweist. Aber dies ist nur eine latente Kraft; nicht einmal die feinsten Eisen-Späne können von einem der beiden Enden eines solchen Stabes magnetisch angezogen oder festgehalten werden. Nur erst wenn wir diesen Stahl-Stab dynamisieren, ihn mit einer stumpfen Feile stark nach Einer Richtung hin reiben, wird er zum wahren, thätigen, kräftigen Magnete, kann Eisen und Stahl an sich ziehen und selbst einem andern Stahl-Stabe, durch bloße Berührung, ja selbst sogar in einiger Entfernung gehalten, magnetische Kraft mittheilen, in desto höherem Grade je mehr man in so gerieben hatte, und ebenso entwickelt Reiben der Arznei-Substanz und Schütteln ihrer Auflösung (Dynamisation, Potenzirung) die medicinischen, in ihr verborgen liegenden Kräfte und enthüllt sie mehr und mehr, oder vergeistiget vielmehr die Materie selbst, wenn man so sagen darf.
1xx) Sie bezieht sich aus diesem Grunde bloß auf die Erhöhung und stärkere Entwicklung ihrer Macht, Veränderungen im Befinden der Thiere und Menschen hervorzubringen, wenn jene Naturkörper in diesem verbesserten Zustande der lebenden, empfindenden Faser ganz nahe gebracht werden, oder dieselbe berühren (beim Einnehmen oder Riechen); so wie ein Magnet-Stab, vorzüglich wenn seine magnetische Kraft verstärk (dynamisirt) worden, in einer, dessen Pol nahe liegenden oder ihn berührenden Stahlnadel, nur magnetische Kraft erzeugt, den Stahl aber in seinen übrigen chemischen und physischen Eigenschaften nicht ändert, auch keine Veränderung in andern Metallen (z.B. im Messing) hervorbringt; eben so wenig, als die dynamisirten Arzneien auf leblose Dinge irgendeine Wirkung ausüben.
2) Man hört noch täglich die homöopathischen Arznei-Potenzen bloß Verdünnungen nennen, da sie doch das Gegentheil derselben, d.i. wahre Aufschließung der Naturstoffe und zu Tage-Förderung und Offenbarung der in ihrem innern Wesen verborgen gelegenen, specifischen Arzneikräfte sind, durch Reiben und Schütteln bewirkt, wobei ein zu Hülfe genommenes , unarzneiliches Verdünnungs-Medium bloß als Neben-Bedingung hinzutritt. Verdünnung allein, z.B. die, der Auflösung eines Grans Kochsalz, wird schier zu bloßem Wasser; der Gran Kochsalz verschwindet in der Verdünnung mit vielem Wasser und wird nie dadurch zur Kochsalz-Arznei, die sich doch zur bewundernswürdigsten Stärke, durch unsere wohlbereitete Dynamisationen, erhöht.[9]
Hinweis: Von Hahnemann verwendete Gewichtseinheiten | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Hahnemann verwendete als Gewichtseinheit das „Apothekerpfund“ und die daraus abgeleiteten Teileinheiten, wie sie in seinem Apothekerlexikon von 1793 aufgeführt sind.[10]
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Potenzen im Verhältnis 1:100 werden Centesimal-Potenzen genannt – Hahnemann nannte sie „médicaments a la goutte“ („Medikamente als Tropfen“)[11] – und mit einem „C“ gekennzeichnet: C-Potenzen. Die Zahl gibt die Anzahl der Potenzierungsschritte an. Potenzen mit kleinen Zahlen sind weniger häufig verdünnt worden und enthalten bis zu einer bestimmten Grenzverdünnung noch Wirkstoffmoleküle. Diese Potenzen werden von Hahnemann „Tiefpotenzen“ genannt. Potenzen mit höheren Zahlen werden „mittlere Potenzen“ oder „Hochpotenzen“ genannt.
Hintergrundinformation Avogadro-Konstante |
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Johann Loschmidt bestimmte 1865 erstmals die Größe der Luftmoleküle und berechnete daraus die nach ihm benannte Konstante.[12] Die Loschmidt-Konstante kann in die Avogadro-Konstante umgerechnet werden. Die „Avogadro-Konstante“ gibt an, wieviele Moleküle in einem Mol sind: 6,022.140.857 x 1023 Moleküle sind in einem Mol vorhanden.[12] Ein Mol ist die Stoffmenge in Gramm, die das Atom- bzw. Molekülgewicht angibt. |
Oberhalb der genannten Grenzverdünnung von 1:1024 enthält die Arznei mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Molekül mehr. Hahnemann konnte das nicht wissen: Er starb rund zwei Jahrzehnte vor der Bestimmung dieser Zahl.[10]
Die Anzahl der für die Dynamisierung erforderlichen Schüttelschläge pro Potenzstufe hat bei Hahnemann eine Entwicklung genommen.[13] In Hahnemanns frühen Werken ist überhaupt nur von „starkem, anhaltenden Umrühren“, „durch starkes Schütteln innig gemischt“, „durch fleißiges Schütteln wohl vereinigt“ oder „durch minutenlanges Schütteln innig vereinigt“ die Rede. (Zitate nach Dellmour).[14] Nachfolgend eine kurze Darstellung der Gesamtentwicklung der Homöopathie bei Hahnemann:
1800: 1/24.000.000 Gran Belladonna
1806: C15
1809: C18
1816: 1:100 Dilution ____ C30 (Anmerkung Homöopedia: Die Formulierung wurde exakt so aus der Quelle übernommen)
1818: 1:100 Trituration (Anmerkung Homöopedia: Die Formulierung wurde exakt so aus der Quelle übernommen)
1821: Hahnemann gibt vor: „mit zehn Schlägen eines kräftigen Armes von oben herab geschüttelt.“[15][16]
1824: Hahnemann empfiehlt im Organon III „zwei Schüttelschläge“ zu gebrauchen – seine Arzneien waren noch zu stark und hatten zu kräftige Wirkungen gezeigt[14][15]
1827: Der Begriff „Potenzieren“ taucht auf
1828: Die C3-Trituration wird standardisiert
1829: „Zwei Schüttelschläge“ im Organon IV[17][14]
1832: Verkürzung der Intervalle zwischen den Arzneigaben
1833: „Zwei Schüttelschläge“ im Organon V[17][14]
1835: „Zwei Schüttelschläge“ im 1. Band der Chronischen Krankheiten, 2. Auflage[17][14]; Auflösung in Wasser und Verteilung der Gabe über mehrere Tage
1837: Hahnemann wechselt im 3. Band der Chronischen Krankheiten auf Zehn Schüttelschläge[17][14]
1838: Hahnemann steigert im 5. Band der Chronischen Krankheiten die Anzahl der Schüttelschläge auf „10, 20, 50 und mehr starke Stoss-Schläge, etwa gegen einen etwas harten, elastischen Körper geführt“. Diese Empfehlung gilt als erster Hinweis auf die später entwickelten Q-Potenzen.[17][14]
1842: 1 Tropfen auf 500 Globuli: „Médicaments au globule“ („Q-Potenzen“)
Clemens Franz Maria von Bönninghausen (1785 – 1864) spricht von einem „neuen Naturgesetz“: Beim Potenzieren fänden zwei in gewisser Weise gegensätzliche Vorgänge statt. Auf der einen Seite würden die grobtoxischen Wirkungen der Arznei immer mehr abgeschwächt, bis bei etwa der 30. oder 200. Centesimalpotenz der Punkt erreicht sei, wo sie zu Nichts werden (Hahnemann kam es offenbar auf das genaue Zahlenverhältnis gar nicht an: Der Unterschied zwischen C30 und C200 ist rein rechnerisch nämlich nicht klein). Auf der anderen Seite würden die dynamischen, unabhängig von der Substanzmenge wirksamen Arzneikräfte durch zunehmende Potenzierung immer mehr verstärkt. Diese Verstärkung – Hahnemann spricht von „schnellerer und eindringlicherer Wirkung“ – hänge nun nicht mehr vom Zahlenverhältnis zwischen Arzneisubstanz und Verdünnungslösung ab, sondern von der Anzahl der in die Mischung „eingearbeiteten“ Schüttelschläge.[18]
Keller (1919 – 2003) schreibt, je weiter man diese Verstärkung der „dynamischen Arzneikräfte“ treibe, nachdem man die grobtoxischen Nebenwirkungen durch genügende Verdünnung ausgeschaltet habe, desto schneller trete die Wirkung ein und desto eindringlicher sei sie.[18] Allerdings komme es durch eine zu große Verstärkung der Potenz durch zu viele Schüttelschläge gleichzeitig zu einer Abkürzung der Heilwirkung. James Tyler Kent (1849 – 1916) habe feststellen müssen, dass die Wiederholung einer Höchstpotenz im Falle einer Tuberkulose regelmäßig zum Tode geführt habe. Hahnemann habe daraufhin die Höchstgrenze der Verdünnung bei C30 oder C200 gesetzt und die Anzahl der Schüttelschläge pro Potenzstufe auf 2 begrenzt.[18] Erst später hat Hahnemann erlaubt, statt zwei Schüttelschlägen pro Potenzstufe auch zehn Schüttelschläge einzuarbeiten, um die Potenz kräftiger zu machen.[17]
Chronische Krankheiten und Hahnemanns Dilemma
Die reine Lehre
Hahnemanns Ähnlichkeitsprinzip war der Grundpfeiler seiner Homöopathie. Er sah dieses Prinzip als Naturgesetz an und schrieb die Misserfolge der damaligen etablierten Medizin und dem von ihr angewandten „allopathischen“ Prinzip zu – das Gegenteil seines homöopathischen Prinzips.[19]
Hahnemanns „Naturgesetz“ besagte, dass eine Krankheit nur geheilt werden könne, wenn sie von einer „Kunstkrankheit“ überlagert werde, die der echten Krankheit ähnlich sei. Zur Erzeugung dieser Kunstkrankheit verwendet die Homöopathie Substanzen, bei deren Einnahme Vergiftungserscheinungen auftreten, die denen einer echten Krankheit ähnlich sind. Die Gesamtheit dieser Vergiftungserscheinungen wird Arzneimittelbild genannt. Arzneimittelbilder werden gesammelt und katalogisiert, so dass man bei einer Erkrankung im Katalog (Repertorium) nachschauen („repertorisieren“) kann, welches Arzneimittel ein der Krankheit ähnliches Arzneimittelbild – also eine zur Krankheit passende Kunstkrankheit – erzeugt.
Die unverdünnten Arzneimittel konnten nicht angewendet werden: Die Vergiftungen wären zu stark oder gar tödlich gewesen. Nur stark verdünnte Arzneimittel waren so schwach, dass eine Vergiftung nicht auftrat.
Andererseits musste die Kunstkrankheit aber so stark sein, dass sie die echte Erkrankung auch wirklich überlagern und damit vertreiben konnte. Hahnemann war der Ansicht, der Körper könne sich nicht gleichzeitig mit zwei ähnlichen Erkrankungen auseinandersetzen; von einer der beiden müsse sich der Körper trennen. Der Körper würde sich von der schwächsten Krankheit trennen, deshalb musste die Kunstkrankheit stärker sein.
Außerdem musste die Kunstkrankheit „flüchtiger“ sein als die echte Krankheit. Eine schwächere Krankheit durch eine stärkere zu ersetzen, ist zunächst kein guter Tausch. Der Tausch ist nur sinnvoll, wenn mit dem Nachteil („stärkere Krankheit“) ein noch größerer Vorteil („kürzere Krankheit“) verbunden ist.
Eine reine Verdünnung der Arzneien kam nicht in Frage: Mit den Nebenwirkungen wären auch die Wirkungen verschwunden. Hahnemann erfand seine Lösung: die „Dynamisierung“.
Die „Dynamisierung“ setzt voraus, dass jeder Stoff zwei „Seiten“ hat: eine materielle und eine geistige. Durch den Vorgang der Potenzierung werden die beiden Seiten voneinander getrennt und auch getrennt „weiterverarbeitet“: Die materielle Seite wird durch die Verdünnung abgeschwächt, die geistige Seite durch die Dynamisierung – im weitesten Sinne ein Energieeintrag – gestärkt.[8][20]
Hahnemann hat beide Vorgänge fest aneinander gekoppelt. Eine Zunahme der Stärkung war nicht ohne Zunahme der Verdünnung zu bekommen – und umgekehrt.
Hahnemann selbst hat die Entdeckung der Avogadro-Konstante nicht mehr erlebt.[10] Er wusste nicht, dass die Anzahl der Moleküle in einem Volumen zwar hoch, aber endlich ist, und dass deshalb eine „unendliche“ Verdünnung nicht möglich ist.
Praktische Probleme
Hahnemann und seine Lehre mussten mehrere Probleme bewältigen: Es gab nicht nur akute Krankheiten. Die chronischen Krankheiten stellten eine Herausforderung dar für jeden Arzt und somit auch für die Homöopathie.
Die nächste Schwierigkeit, auf die Hahnemann in seiner Lehre eine Lösung finden musste, wurde vom Spontanverlauf der Krankheiten vorgegeben. Akute Krankheiten wurden – insbesondere in der Entstehungsphase – schnell auch mal schlimmer, oftmals auch nach einer Arzneigabe. Ebenso konnten sich auch chronische Krankheiten verschlimmern und zudem im späteren Verlauf neue Symptome auftreten.
Bei einer Verschlimmerung oder einem verzögerten Heilungsverlauf einfach die Medikamentengabe zu wiederholen, war Hahnemann nach seiner eigenen Lehre aber verboten. Das Medikament musste sorgfältig ausgewählt werden, denn die Kunstkrankheit musste der echten Krankheit ziemlich ähnlich sein (genau gleich wiederum durfte sie nicht sein). Wenn nun ein Medikament gegeben wird, dessen Arzneimittelbild dem Symptombild entspricht, wurde der Beginn der Heilung unterstellt. Der Körper würde sich langsam zunächst von der echten Krankheit und danach von der Kunstkrankheit verabschieden. Dabei würde sich das Symptombild ändern, weil nicht alle Symptome gleichzeitig verschwinden können. Und manchmal wurde auch das Auftreten neuer Symptome beobachtet. Mit anderen Worten: Durch die Gabe eines – nach der homöopathischen Lehre – korrekt ausgewählten Mittels, das genau zum Symptombild passt, ändert sich das Symptombild. Wenn man dann dasselbe Mittel ein zweites Mal gibt, kann es – nach der homöopathischen Lehre – nicht mehr das korrekt ausgewählte sein.
Eigentlich – bei strenger Auslegung der Lehre – darf ein Homöopath sein Mittel bei einer Erkrankung also nur ein einziges Mal geben. Vor Gabenwiederholungen sind das Krankheits- bzw. Symptombild schon verändert.
Alle Patienten, insbesondere auch chronisch kranke Patienten – man darf das unterstellen – wollen schnell gesund werden, damals nicht anders als heute. Die Homöopathie musste eine Möglichkeit schaffen, das Verbot der Gabenwiederholung zu umgehen.
Dazu gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten. Erste Möglichkeit: Nach jeder Arzneigabe wird ein neuer Status erhoben und eine neue Erstanamnese durchgeführt mit der Erstellung einer neuen Symptomliste, so dass ein anderes – jetzt auf den veränderten Zustand passendes – Arzneimittel gefunden („repertorisiert“) wird. Dieses Mittel darf dann wiederum nur einmal gegeben werden.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, die Stärke des homöopathischen Medikamentes zu ändern. Nach der reinen Lehre dürfte es diese Möglichkeit zwar gar nicht geben: Die Qualität ändert sich üblicherweise nicht mit der Quantität. Aber die Erfahrung, die Hahnemann gemacht hat, hat ihm diese Möglichkeit eröffnet.
Hahnemann war bis ins hohe Alter auf der Suche nach Lösungen für seine Probleme. Er erfand immer höhere Potenzen (seine Schüler haben ihn darin später bei weitem noch übertroffen), um immer stärker einwirken zu können. Und er benötigte viele Potenzen, denn dieselbe Potenz durfte nicht zweimal gegeben werden:
Jede, in einer Cur merklich fortschreitende und auffallend zunehmende Besserung ist ein Zustand der, so lange er anhält, jede Wiederholung irgend eines Arznei-Gebrauchs durchgängig ausschließt, weil alles Gute, was die genommene Arznei auszurichten fortfährt, hier seiner Vollendung zueilt. Dies ist in acuten Krankheiten nicht selten der Fall; bei etwas chronischen Krankheiten hingegen, vollendet zwar auch bei langsam fortgehender Besserung, zuweilen Eine Gabe treffend gewählter, homöopathischer Arznei die Hülfe, die dieses Mittel in solchem Falle seiner Natur nach auszurichten im Stande ist, in einem Zeitraum von 40, 50, 60, 100 Tagen. Aber theils ist dies sehr selten der Fall, theils muß dem Arzte, so wie dem Kranken viel daran liegen, daß, wäre es möglich, dieser Zeitraum bis zur Hälfte, zum Viertel, ja noch mehr abgekürzt und so weit schnellere Heilung erlangt werden könnte.
Und dieß läßt sich auch, wie neueste, vielfach wiederholte Erfahrungen mich gelehrt haben, recht glücklich ausführen, unter folgenden Bedingungen: erstens, wenn die Arznei mit aller Umsicht recht treffend homöopathisch gewählt war – zweitens, wenn sie hoch potenzirt, in Wasser aufgelöst und in gehörig kleiner Gabe in, von der Erfahrung als die schicklichsten, ausgesprochenen Zeiträumen zur möglichsten Beschleunigung der Cur gereicht wird, doch mit der Vorsicht, daß der Potenz-Grad jeder Gabe von dem der vorgängigen und nachgängigen Gaben um Etwas abweiche, damit das, zur ähnlichen Arzneikrankheit umzustimmende Lebensprincip, nie zu widrigen Gegenwirkungen sich aufgeregt und empört fühlen könne, wie bei unmodificirt erneuerten Gaben, vorzüglich schnell nach einander wiederholt, stets geschieht.1)
Anmerkung von Hahnemann:
1) Was ich, um diese widrigen Reactionen der Lebenskraft zu verhüten, in der fünften Ausgabe des Organons zu diesem Paragraph in einer langen Anmerkung sagte, war alles, was meine damalige Erfahrung mir gestattete; seit den letzten 4, 5 Jahren aber, durch mein, seitdem abgeändertes, neues, vervollkommtes Verfahren, sind alle diese Schwierigkeiten völlig gehoben. Dieselbe wohlgewählte Arznei kann nun täglich und zwar Monate lang, wo nöthig, fortgebraucht werden; und zwar so, daß wenn der niedre Potenz-Grad binnen einer oder zwei Wochen verbraucht ist, (denn bei der , nachstehend gelehrten, neuen Dynamisations-Weise, fängt der Gebrauch mit den untersten Graden an) man bei Behandlung chronischer Krankheiten, in gleicher Art zu den höheren Graden übergeht.[21]
Bei dem „vervollkommten Verfahren“, das Hahnemann in seiner Anmerkung anspricht, handelt es sich um die Erfindung der Q-Potenzen, mit denen er ab 1838 arbeitete und die 1842 in § 270 der 6. Auflage des Organons erstmals auftreten.[9][22]
Bis zur Erfindung der Q-Potenzen hat Hahnemann mit den C-Potenzen gearbeitet.
Homöopathische Potenzen
Als Potenzen werden in der Homöopathie die aus einer Ausgangssubstanz durch Potenzieren (Verdünnen und „Dynamisieren“) entstandenen Arzneimittel bezeichnet. Diese Arzneimittel gibt es in verschiedenen Stärken, je nachdem, ob das Arzneimittel wenige oder viele Potenzierungsschritte durchlaufen hat.
Der Begriff „Potenz“ wurde von Hahnemann zunächst aber noch in einem weiteren Sinne gebraucht, nämlich als eine Kraft, die spezifische Wirkungen auszulösen vermag. Anfangs bezeichnete er seine Medikamente als „potenzierte Kraftentwicklung“. Aber auch Kräfte außerhalb der Homöopathie wurden von Hahnemann als Potenz bezeichnet. Er nannte 1805 physikalische Einflüsse wie Blitz und Feuer „Naturpotenzen“ und bezeichnete Phänomene wie Licht, Kälte, Wärme und Kräfte des „Mesmerismus“ als Potenzen.[1]
Auch die vielfältigen Krankheitsursachen wurden von Hahnemann als Potenz bezeichnet. Er differenzierte dabei zwischen den „natürlichen Krankheitspotenzen“ (Infektionskrankheiten, Allergien, Nebenwirkungen „allopathischer“ Medikamente, psychische Einflüsse) und „künstlichen Krankheitspotenzen“. Die künstlichen Krankheitspotenzen sind nichts anderes als die seinen Medikamenten innewohnenden Arzneimittelbilder.[1] Später hat Hahnemann den Begriff „Potenz“ im Sinne von „Kraft“ tatsächlich durch den Begriff „Kraft“ ersetzt. In seinem persönlichen Exemplar des Organon I von 1810 hat er auf Seite XLVI im Wort „Krankheitspotenz“ die Buchstaben „potenz“ durchgestrichen und handschriftlich „kraft“ darüber geschrieben.[1]
Für die potenzierten Arzneimittel gilt: Alle Potenzen der nächsthöheren Stufe entstehen entweder aus der Urtinktur oder einer Potenz der nächsttieferen Stufe. Der Begriff „Potenzgrad“ kam erstmals 1835 in Hahnemanns Werk über die Chronischen Krankheiten auf.[23][1]
Die Herstellung einer neuen Potenzstufe erfolgt in zwei Schritten:
- Verdünnung der Substanz zur Abmilderung der Nebenwirkungen (Toxizität)
- Verstärkung der Arzneiwirkung durch Verschütteln (bei flüssigen Arzneistoffen) oder durch Verreiben (bei festen Arzneistoffen), wobei sich die „geistartige Arzneikraft“ von der Arzneimaterie ablösen, an das Lösungsmittel binden und an Arzneikraft zunehmen soll. Hahnemann nennt diesen Vorgang „Dynamisierung“.[8]
Je nach Potenzstufe spricht man von „Tiefpotenzen“, „mittleren Potenzen“ oder „Hochpotenzen“.[22]
Für akute Erkrankungen werden Tiefpotenzen empfohlen. Diese seien gerade auch in der Hand eines „Therapeuten mit wenig Erfahrung“ bei bestimmten Krankheitsbildern eine in kurzer Zeit zu erlernende Arzneitherapie.[22]
Für chronische Krankheiten werden Hochpotenzen empfohlen. Es sei auch wichtig, die hohen C-Potenzen in Wasser aufzulösen und gut umzurühren. Dieser Vorgang heißt „Verkleppern“ – oder englisch: „Plussing“. Die Potenzstufe wird durch das Umrühren jedes Mal etwas verändert. Das sei wichtig, damit das „zur ähnlichen Arzneikrankheit umzustimmende Lebensprincip, nie zu widrigen Gegenwirkungen sich aufgeregt und empört fühlen könne, wie bei unmodificirt erneuerten Gaben, vorzüglich schnell nach einander wiederholt, stets geschieht.“[21] (siehe oben).
Nach der Gabe einer C30- oder C200-Potenz werde die Wirkung abgewartet. Falls sich die Beschwerden kontinuierlich bessern, sei bis zur Ausheilung keine weitere Gabe nötig.[22]
Dahler schreibt:
Je akuter und heftiger das Krankheitsbild ist, umso schneller sollte der Patient auf die Arzneigabe reagieren. Tritt eine Besserung nach Ermessen des Verschreibers nicht schnell genug ein, wird eine andere Arznei verordnet. Erst wenn deutliche Zeichen für eine erneute Verschlechterung oder ein Ende der Besserung auftreten, wird die Arznei wiederholt. Dies kann bei akuten Erkrankungen nach Minuten, Stunden oder Tagen der Fall sein. Bei der Verwendung von Hochpotenzen ist eine besondere Beobachtung des Patienten besonders wichtig.[22]
C-Potenzen
Die C-Potenzen gehen unmittelbar auf Hahnemann zurück. Der Name C-Potenz ist eine Abkürzung für Centesimal-Potenz. Die einzelnen Verdünnungsstufen erfolgen jeweils im Verhältnis 1:100 (centesimal). Nach jeder Verdünnung erhält die neue Lösung 10 Schüttelschläge zur „Dynamisierung“.
Jede Potenzstufe ist durch eine Zahl gekennzeichnet, die die Anzahl der Verdünnungen und „Dynamisierungen“ benennt. Hahnemann begann mit den tieferen Potenzen und steigerte im Laufe seines Lebens die Potenzhöhe immer weiter.
- Die Potenzgrade C1 bis C11 werden als „Tiefpotenzen“ bezeichnet.
- Die Potenzgrade C12 bis C29 werden als „mittlere Potenzen“ bezeichnet.
- Die Potenzgrade ab C30 aufwärts werden als „Hochpotenzen“ bezeichnet.
Den höheren Potenzgraden wird normalerweise eine schnellere, stärkere und tiefergreifende Wirkung zugeschrieben.[22]
Über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren[18] bis etwa 1838 – Sauerbeck nennt das „Hahnemanns kopernikanische Wende“ – experimentierte Hahnemann mit zunehmender Potenzhöhe[18] und benutzte hauptsächlich Potenzen der Stufe C30.[24] Bei verzögerter Heilung steigerte(!) Hahnemann seine Arzneigaben von C30 über C18 bis zu C12 – mit Ausnahme von Schwefel (Sulphur); beim Schwefel steigerte Hahnemann weiter über C6 bis zur puren Schwefelgabe.[24]
Hahnemanns Wende zu den hohen Potenzen erfolgte im September 1838. Bis zum 10.09.1838 verschrieb er Schwefel maximal bis zur Potenzstufe C30. Ab dem 14.09.1838 kommt Schwefel in Hahnemanns Rezepten nur noch in hohen Potenzen vor. Hahnemann steigerte die Stufen über C95, C100 bis zur C200.[24]
Sauerbeck schreibt:
Als er (Hahnemann) C100 überschritt und bei C165 anlangte (06.11.1838 bis 30.11.1838), mußte ihm klar sein, daß er die Verdünnungsgrade endgültig überschritten hatte, bei denen der Arzneistoff noch als korpuskular anwesend erwartet werden durfte. Trotzdem schritt er aber bei der Kur noch immer, wie er es von früher her gewöhnt war, zu zunehmender Konzentration vor. Er handelte bei diesem Vorgehen nach dem Paradoxon: zu wenig ist bereits genug. Vom 28.11.1838 mindestens bis Anfang Februar 1839, als er mit C190 bis C199 ... den Endstand erreicht hatte, bekannte er sich dann jedoch zu dem viel krasseren Paradoxon: zu wenig ist mehr als genug wäre. Nun kehrte er nämlich folgerichtig, durchdrungen von der besonders großen Hochwertigkeit extremer Verdünnungsgrade (ihrer „potentia“ – also Kraft), die Richtung seiner Rezepturen um und schritt statt zu höherer Konzentration während der Behandlung zu immer geringerer vor, auf deren größere Wirksamkeit der Organismus vorbereitet werden mußte: nun C190 ⇒ C191 ⇒ C192... zuvor noch C30 ⇒ C24 ⇒ C18... bzw. noch C100 ⇒ C95 ⇒ C90...[24]
Für die Anwendung der Potenzen hat James Tyler Kent (1849 – 1916) Regeln erlassen. Kent, der Hahnemanns Erfindung der Q-Potenzen nicht kannte, hat mit C-Potenzen gearbeitet und angegeben, wie die Arzneien der C-Potenzreihe zu geben seien. Diese Regeln sind unter dem Begriff Kent’sche Reihe bekannt.
Kent selbst schreibt in Series in degrees[25] (zitiert nach R. Baur):[26] „So wie es in der Musik Oktaven gibt, so gibt es Oktaven in der ‚simple substance.’“ Baur kritisiert:
Die Benennung ‚Oktave’ für die Kent’sche Serie scheint dabei unglücklich gewählt, denn es liegen hier weder Zahlenverhältnisse wie bei einer musikalischen Oktave vor, noch lässt sich eine andere Gesetzmäßigkeit in diesen Potenzierungsschritten erkennen, so dass letztlich auch der Begriff Reihe nicht zutrifft.[26]
Die Behandlung beginnt mit einer C30. Die Dosis wird wiederholt, wenn es nicht zu einer Besserung kommt. Danach erfolgt eine „Dosissteigerung“ auf C200, die bei Bedarf ebenfalls wiederholt wird. Nach C200 folgt C1.000, gefolgt von C10.000 und C100.000, die alle bei Bedarf wiederholt werden. Zwischen den einzelnen Arzneigaben wird länger abgewartet, wobei man sich an der durchschnittlichen Wirkungsdauer der einzelnen Potenzstufen orientieren sollte.[22]
D-Potenzen
Der Name D-Potenz ist eine Abkürzung für Dezimal-Potenz. Die einzelnen Verdünnungsstufen erfolgen jeweils im Verhältnis 1:10 (dezimal). Nach jeder Verdünnung erhält die neue Lösung 10 Schüttelschläge zur „Dynamisierung“.
Jede Potenzstufe ist durch eine Zahl gekennzeichnet, die die Anzahl der Verdünnungen und Dynamisierungen benennt. Die höchste Potenz, die verwendet wird, ist die D2.000.
D-Potenzen wurden von Vehsemeyer gefordert: Er hielt die Abstufungen der C-Potenzen im Tiefpotenzbereich für zu groß.[27] Constantin Hering (1800 – 1880) hat den Vorschlag Vehsemeyers und auch des Apothekers Grüner[28] aufgegriffen und führte 1828 beim Lachesis-Gift (Gift der Buschmeisterschlange) die „Decimalpotenzen“ ein.[3] Vehsemeyer hat dann 1836 in einem Artikel der Hygea (1836/4/547) die generelle Einführung der D-Potenzen in Deutschland angeregt.[29][3]
K-Potenzen
Hahnemann verwendete bei der Potenzierung seiner Arzneimittel für jede Potenzstufe ein neues Gläschen. Diese Mehrglasmethode ist material- und zeitaufwändig, mithin teuer.
Nachdem Caspar Julius Jenichen (1787 – 1849) im Jahre 1844 erstmals mit der Mehrglasmethode Hochpotenzen bis zur C16.000 herstellte, kam der Wunsch auf, die Herstellung dieser hohen Potenzen zu vereinfachen, zu beschleunigen und die Kosten zu senken. Semjon Nikolajewitsch Korsakow (Семён Николаевич Корсаков; in vielen älteren Quellen findet sich die heute unübliche Transkription „Korsakoff“) erfand daraufhin die Einglasmethode.[22][30]
Korsakow verwendete bei der Herstellung seiner Potenzen für jede Potenzstufe dasselbe Gläschen. Diese Vorgehensweise ist erheblich preisgünstiger, denn es werden weniger Gläser benötigt und der Zeitaufwand ist geringer. Dieser Vorteil macht sich besonders in den hohen Potenzstufen bemerkbar. Zunächst wurden nur hohe C-Potenzen mit der Einglasmethode hergestellt, später auch hohe D-Potenzen. Um Verwechslungen zu vermeiden, werden die C-Potenzen, die nach Hahnemanns Mehrglas-Verfahren hergestellt werden, auch mit „CH“ gekennzeichnet und die Potenzen, die nach Korsakows Einglasverfahren hergestellt werden, mit „CK“. Mitunter findet man auch nur die Kennungen „H“ (für Hahnemann) und „K“ oder „K-Potenzen“ (für Korsakow). Der Begriff „C-Potenz“ ohne weiteren Kennbuchstaben bezeichnet immer eine Hahnemann’sche C-Potenz nach dem Mehrglas-Verfahren.
Bei der Einglasmethode nach Korsakow treten an der Wandung der Glasflasche Adhäsionseffekte auf, die zu einem unsicheren Ergebnis führen. Berné und Chavanon führten Berechnungen durch, um CH-Potenzen mit CK-Potenzen vergleichen zu können, Chavaonon und Schmidt erstellten Umrechnungs- bzw. Vergleichstabellen. Obwohl Chavanon selbst Vergleichstabellen erstellt hat, war er doch der Meinung, dass man CH-Potenzen nicht mit CK-Potenzen vergleichen könne: Die K-Potenzen seien stärker.[31] Kritzler-Kosch hingegen hält K-Potenzen nicht für Hochpotenzen – implizit also für schwächer.[31][32][28]
Untersuchungen von Karl Kötschau (1892 – 1982), Hans Wapler (1866 – 1951), Fritz Donner (1896 – 1979) und Adolf Stiegele (1871 – 1956) mit Methylenblau zeigten, dass tatsächlich hohe K-Potenzen noch Materie enthielten, die sie rein rechnerisch nicht enthalten dürften, wenn die Potenzstufen korrekt wären.[30]
Voegeli hält die Vergleichstabellen („Homologietabellen“) für vollkommen willkürlich. Er habe die Erfahrung gemacht, dass gleich hohe C- und K-Potenzen gleich stark wirkten.[33]
Fluxionspotenzen
Um noch schneller noch höhere Potenzen herstellen zu können, wurden die sogenannten Fluxionspotenzen erfunden. Dabei wird die Ausgangssubstanz mit fließendem Lösungsmittel verdünnt. Die „Dynamisierung“ erfolgt entweder durch elektrische Rührgeräte (elektrisch angetriebene Glasstäbe mit Umdrehungen von 2.400 bis 15.000 Umdrehungen pro Minute) oder eine turbulente Verwirbelung, die beim Einpressen der Ausgangssubstanz über eine Düse in das Lösungsmittel entsteht.[34][35][36]
50.000er Potenzen
Hahnemann verwendete im Laufe der Zeit immer höhere Potenzen, und seine Schüler taten es ihm gleich. Von den hohen Potenzen versprach man sich eine stärkere und zugleich eine mildere Wirkung, eine schneller einsetzende und länger anhaltende Wirkung. Der lange Weg zu immer höheren Potenzen von den hohen C-Potenzen über die noch höheren K-Potenzen bis hin zu den allerhöchsten K- und Fluxionspotenzen zeigt, dass die Homöopathen mit der Wirkung nie zufrieden waren.
Hahnemann selbst experimentiert über einen Zeitraum von 20 Jahren[18] mit immer höheren Potenzen. Ab 1838 erfand er dann ein neues Potenzierungsverfahren, das ausgehend von einer C3-Verreibung („C3-Trituration“) die weiteren Potenzstufen in Schritten von 1:50.000 erstellte. Dabei wurde jeder 50.000er Schritt in zwei Halbschritten durchgeführt: einen „aktiven“ Halbschritt mit einer Verdünnung von 1:100 und einer „Dynamisation“ mit 100 Schüttelschlägen sowie einen „passiven“ Halbschritt mit einer Verdünnung von 1:500 ohne Dynamisation. Von Halbschritt zu Halbschritt wechselten auch die Phasen zwischen fest und flüssig.[37]
Hahnemann versprach sich von seinem neuen Potenzierungsverfahren die Lösung seiner Probleme und die Lösung des Dilemmas der verbotenen Mehrfachgabe: Wenn man das neue Potenzierungsverfahren anwandte, dann durfte man die Arzneimittel auch mehrfach geben, ohne neu repertorisieren zu müssen. Die höhere Anzahl der Schüttelschläge sollte eine stärkere Wirkung zur Folge haben. Gleichzeitig wurde durch die höhere Verdünnung eine mildere Wirkung erwartet.
Hahnemann beschrieb sein neues Verfahren in der 6. Auflage seines Organons, die 1842 fertiggestellt wurde. Er nannte seine neuen Arzneien Médicaments au globule.[38] Nach Hahnemanns Tod am 2. Juli 1843 blieb die 6. Auflage des Organons wegen Erbstreitigkeiten und Problemen zwischen der Witwe Hahnemanns und möglichen Käufern 78 Jahre unveröffentlicht. Richard Haehl war es vorbehalten, im Jahre 1921 die 6. Auflage des Organons zu veröffentlichen.[39]
Q-Potenzen
Hahnemanns neues Potenzierungsverfahren wurde offenbar nicht sofort übernommen. Es war Robert Flury (1903 – 1977), der Hahnemanns neues Verfahren im Organon 6 entdeckte. Wegen der Verdünnungsstufen von 1:50.000 nannte Flury die Potenzen Quinquagintamillesimalpotenzen. Jost Künzli von Fimelsberg etablierte den Begriff Q-Potenzen.[37]
LM-Potenzen
Auch Adolf Voegeli arbeitete mit Potenzen in 50.000er Verdünnungsstufen. Er hielt sich aber nicht genau an Hahnemanns Vorschriften.
Während Hahnemanns Ausgangssubstanz eine C3-Trituration (feste Form) ist, ist die Ausgangssubstanz bei Voegeli ein alkoholischer Auszug aus einer C3-Trituration. Hahnemann verwendet kleine Globuli der Größe „0“, Voegeli verwendet größere Globuli der Größe „1“.[38] Hahnemann wechselt zwischen „aktivem“ und „passivem“ Halbschritt, bei Voegeli sind beide Halbschritte „aktiv“ (mit „Dynamisierung“).[37]
Und Voegeli nennt die 50.000er Potenzen, so wie er sie herstellt, als Folge eines Missverständnisses LM-Potenzen. Tatsächlich bedeutet die römische Zahl „LM“ nicht 50.000, sondern 950. Wollte man mit den Buchstaben „L“ für 50 und „M“ für 1.000 die Zahl „50.000“ schreiben, dann hätte man eine multiplikative Schreibung wählen müssen („L*M-Potenzen“), die es im römischen Zahlensystem aber nicht gab.
Potenzakkorde
Den unterschiedlichen Potenzgraden werden unterschiedliche Wirkungen zugeschrieben. Darüber hinaus ist die wichtige Frage der Gabenwiederholungen von der Potenzhöhe abhängig.
Tiefpotenzen sollen eher bei lokalen, organbezogenen Erkrankungen gegeben werden. Erstverschlimmerungen seien nach Tiefpotenzen eher seltener als nach Hochpotenzen. Tiefpotenzen dürfen häufig und in kurzen Abständen wiederholt werden.[40]
Hochpotenzen sollen eher bei Patienten ausgewählt werden, deren Symptome unter Berücksichtigung des ganzen Patienten und des ganzen Arzneimittelbildes weitgehend übereinstimmen. Hochpotenzen sollen stärker und tiefer wirken. Die Wirkung trete schneller ein – bei akuten Krankheiten „zu schlagartig“, so dass bei akuten Erkrankungen von Hochpotenzen abgeraten wird.[40]
Bei alten oder geschwächten Patienten sollen Hochpotenzen nicht eingesetzt werden. Die Wirkung sei zu stark für den geschwächten Körper.[40]
Hochpotenzen dürfen nur selten gegeben werden, und wenn, dann in großen Abständen. Zur Beschleunigung der Heilung erwarten die Patienten aber oftmals häufige Gabenwiederholungen in kurzen Zeitabständen, so dass sich manche Homöopathen gezwungen sehen, nach der ersten Gabe der Hochpotenz bei den weiteren verlangten Arzneigaben Placebos einzusetzen (Arzneien, die sogar aus Sicht des behandelnden Homöopathen Placobos sind).
Schwierigkeiten treten auf, wenn die Ansprüche an die Therapie zu widersprüchlichen Arznei-Empfehlungen führen.
Hahnemann ist den Weg über die Q-Potenzen gegangen, denen er die vollständige Lösung seiner Probleme bescheinigt. Q-Potenzen wirken schnell, tiefgreifend, breit genug, haben selten Erstverschlimmerungen zur Folge und dürfen häufig wiederholt werden (mit kleinen Änderungen in der „Dynamisierung“: vor jeder Gabenwiederholung neue Schüttelschläge).
Hahnemanns Lösung ist aber erst mit 100-jähriger Verspätung bekannt geworden. In der Zwischenzeit hatten Hahnemanns Schüler die gleichen Probleme, aber nicht Hahnemanns Problemlösung.
Der spanische Arzt Emanuel Cahis (1855 – 1934) habe die Beobachtung gemacht, dass „Natrium muriaticum C30“ – also Kochsalz in Hochpotenz – auch dann wirke, wenn das Lösungsmittel „Spuren von Kochsalz“ enthalte.[41] Er bemerkte, dass eine Hochpotenz von Kochsalz immer auch mit einer Tiefpotenz von Kochsalz gemischt ist: Die Hochpotenz aus der Urtinktur, die Tiefpotenz aus dem Lösungsmittel. Cahis schloss daraus, dass sich Hochpotenzen und Tiefpotenzen in einer Lösung gegenseitig nicht stören.
Cahis verfiel auf die Idee, zur Problemlösung Mischungen von Potenzen zu verwenden. Diese Mischungen nannte er Potenzakkorde in Analogie zu den Zusammenklängen gleicher Töne in unterschiedlicher Tonhöhe. Wie in der Musik fand Cahis dann auch Gesetzmäßigkeiten, um harmonische „Zusammenklänge“ der einzelnen Potenzen zu schaffen. Er kombinierte:
- „Pan“ C6 – C18 – C30
- „Supra“ C6 – C30 – C60 – C90 – C120 – C150 – C180 – C210
Es gibt auch noch höhere C-Potenzakkord-Zusammenstellungen.
Die Potenzakkorde sollen vergleichsweise milde wirken. Die Gaben dürfen häufiger wiederholt werden und die Gesamtzahl der Gaben dürfe höher sein. Bei längerem Gebrauch schwäche sich die Wirkung weniger ab als bei einfachen Potenzen.[42]
Gleichzeitig sollen die Potenzakkorde schnell und tief wirken. Die Wirkungsdauer sei mittellang.
Fortier-Bernoville schreibt:
Zusammenfassend können wir feststellen: Während die hohen Potenzen eine negative Phase der Verschlimmerung für einen oder zwei Tage haben, der eine langsame, anhaltende Verbesserung folgt, wirkt die tiefe Potenz kurz. Sie wirkt oberflächlich und muss daher wiederholt werden. Die Mischung der beiden unterschiedlichen Potenzen erzielt eine Wirkung, die zwischen jener der beiden Einzelpotenzen liegt.[43]
Cahis schreibt:
Die homöopathischen Akkorde sind eine weitgehende Lösung der Potenz-Frage und eine vollständige Lösung des Problems der Erstverschlimmerung homöopathischer Mittel. Einfache homöopathische Mittel führen um so eher zur Verschlimmerung, je höher ihr Verdünnungsgrad ist und je häufiger die Gaben sind. ... Wenn wir dagegen die homöopathischen Akkorde benutzen, wird dieser nachteilige Effekt nie gesehen und gleichzeitig gibt es keinen Zweifel im Hinblick auf die Potenz.[44]
Erläuterung | |||||||||||||||
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Bei der Vermischung mehrerer Lösungen in mehreren Potenzen bleiben die alten Potenzen nicht erhalten.
Die Verdünnungsstufe eines Potenzakkordes wird nur von der tiefsten Potenz und der Anzahl der beteiligten Potenzen bestimmt. Bei einem Potenzakkord aus 10 beteiligten Einzelpotenzen wird die tiefste Potenz mit der 10-fachen Menge an Lösungsmittel versetzt, das zwar nicht ganz rein ist, deren Anteile an Arzneimaterie aber zu vernachlässigen sind. Die Anzahl der durchschnittlichen Schüttelschläge steigt allerdings:
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Die Wirkkraft in der Potenz
In der Homöopathie werden Arzneimittel „potenziert“. Der Vorgang der „Potenzierung“ soll die Arzneimittel in der von der Homöopathie gewünschten Weise verändern. Bei der Erstellung einer neuen Potenzstufe wird die Ausgangssubstanz in einem ersten Halbschritt verdünnt und im zweiten Halbschritt „dynamisiert“, was bei flüssigen Formen durch Schütteln, Rühren oder Verwirbeln geschieht, bei festen Formen durch Verreiben.
Beim Verdünnen wird stufenweise das materielle Arzneimittel aus der Lösung entfernt. Dadurch wird die – oftmals vorhandene – Giftwirkung kleiner und schließlich zum Verschwinden gebracht. Verdünnungen erfolgen immer mit demselben Faktor, so dass die Verdünnung der Ausgangssubstanz exponentiell zu- und die Konzentration exponentiell abnimmt. Jenseits einer Verdünnungsstufe von D24 respektive C12 ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kein Molekül der Ausgangssubstanz mehr im Arzneimittel vorhanden.
Diese Erkenntnis hatte Hahnemann noch nicht: Die Loschmidt’sche Konstante wurde erst 22 Jahre nach seinem Tod bekannt (siehe oben). Unabhängig davon hätte Hahnemann wissen können und müssen, dass eine unendliche Verdünnung nicht möglich ist, wenn Materie in Korpuskeln vorliegt. Seit 1865 weiß die Homöopathie aber um den Fakt, dass oberhalb der Loschmidt-Grenze (oder auch Avogadrogrenze genannt) im homöopathischen Arzneimittel eine materielle Wirkung nicht mehr anzunehmen ist. Dennoch gibt es auch nach 1865 mehr Potenzstufen oberhalb der Loschmidt-Grenze als unterhalb.
Der zweite Halbschritt des Potenzierungsverfahrens, die „Dynamisierung“, fügt der neuen Potenzstufe Energie zu in Form von Schüttelschlägen oder Verreibungen. Durch die Energiezufuhr soll sich die „geistartige Kraft“ von der Materie des Arzneimittels lösen und an die Materie des homöopathischen Arzneimittels (Lösungsmittel, Wasser, Alkohol oder Zucker) binden. Die Schüttelschläge – oder die Verreibungszeiten – addieren sich von Potenzstufe zu Potenzstufe auf, so dass die Energiezufuhr linear zunimmt. Allerdings wird von der „dynamisierten“ Lösung beim jeweils nächsten Verdünnungsschritt der größte Teil (9/10 bei den D-Potenzen, 99/100 bei den C-Potenzen) wieder verworfen, so dass der Energiegehalt der „dynamisierten“ Arzneimittel von Potenzstufe zu Potenzstufe keineswegs linear zunimmt.
Wirkkraftfaktoren: Verdünnung und Verschüttelung
Es stellt sich die Frage, welches der beiden Prinzipien in der homöopathischen Lehre – Verdünnen oder Verschütteln – bestimmend ist für die Wirkstärke des Arzneimittels. Immerhin ist der Unterschied zwischen exponentieller Zunahme (der Verdünnung) und linearer Zunahme (der Schüttelschläge) schon bei niedrigen Potenzstufen außerordentlich groß und er vergrößert sich von Stufe zu Stufe immens.
Eine zweite Frage stellt sich hinsichtlich der postulierten „geistartigen Arzneikraft“. Wenn diese immaterielle Arzneikraft angeblich mit jedem Schüttelschlag größer wird, dann ist zwar die Vorschrift plausibel, zur Steigerung der Arzneikraft bei jeder Potenzstufe neue Schüttelschläge hinzuzufügen. Aber vor diesen Schüttelschlägen werden jeweils 9/10 oder sogar 99/100 der vorhergehenden Potenzstufe durch Verdünnung entfernt. Ist das relevant oder irrelevant? Kann „geistartige Arzneikraft“ aus dem Nichts entstehen? Kann sie größer werden, wenn man einen Großteil der Trägerlösung (der ja angeblich eine immaterielle Arzneikraft anhaftet) entfernt und den Rest, aufgefüllt mit unverschütteltem Lösungsmittel, mit weiteren Schüttelschlägen bearbeitet?
Norbert Aust hat berechnet[45], dass beim Verwerfen von jeweils 9/10 (in der D-Potenzreihe) eines verschüttelten Lösungsmittels, das durch unverschütteltes Lösungsmittel in gleicher Menge ersetzt wird, die Gesamtschüttelzahl nicht linear mit der Zahl der Potenzschritte zunimmt. Die Mischung aus einem kleinen Teil hochverschüttelter mit einem großen Teil geringverschüttelter Lösung führt in der D-Potenzreihe lediglich zu einer durchschnittlichen Schüttelzahl, die mit jedem Potenzschritt eine weitere „1“ rechts vom Komma anhängt: Wenn je Stufe zehn Schüttelschläge erfolgen und dann 9/10 der Lösung entfernt werden, ist die Anzahl der Schläge, denen die aktuelle Lösung ausgesetzt wurde, zuerst 10, dann 1, dann 0,1, dann 0,01 usw.) In der C-Potenzreihe ist der durchschnittliche Zuwachs an Schüttelzahl noch erheblich geringer (siehe auch Artikel Potenzierung).
G. W. Groß hält eine Zunahme der „geistartigen Arzneikraft“ durch Verschütteln für unbezweifelbar. Er schreibt:
Ist die Arzneikraft des mit ihr im rohen Zustande vereinigten Stoffes ganz entbunden, so nimmt sie auch ganz die Natur der Contagien an und läßt sich, wie diese, durch fortgesetzte Übertragung an indifferente Stoffe fast in’s Unendliche fortpflanzen.[27][46]
Wie muss man also Potenzen anordnen, damit eine nach Stärke geordnete aufsteigende Reihe entsteht? Für die Beantwortung dieser Frage betrachten wir im folgenden – neben dem Verdünnungsgrad – nicht die „durchschnittliche Schüttelzahl“, was eigentlich richtiger wäre, sondern die „eingearbeitete“ „Gesamt-Schüttelzahl“, die von den Homöopathen als wesentliches Beurteilungskriterium verwendet wird.
Potenzreihe mit C-Potenzen
Innerhalb der drei unterschiedlichen Potenzarten – Decimalpotenzen, Centesimalpotenzen und Quinquagintamillesimalpotenzen – ist die Frage leicht zu beantworten: Jede Reihe ist nach den Kennzahlen aufsteigend zu ordnen.
Ist das tatsächlich so? Ist das unter Homöopathen allgemein anerkannt?
Vehsemeyer hielt ein Mittel, das in der C3 unwirksam (also zu schwach) ist, in einer C2 bereits für überdosiert (also zu stark).[27] Offensichtlich bezieht sich Vehsemeyer bei dem Begriff „Stärke“ nicht auf die immaterielle, sondern auf die materielle Arzneikraft.
Auch bei Sauerbeck findet man: Bei verzögerter Heilung „steigerte“ Hahnemann seine Arzneigaben von C30 über C18 bis zu C12 (siehe oben und bei Sauerbeck[24]).
Unter diesen Voraussetzungen müsste die Reihe absteigend geordnet werden. Dennoch ist die aufsteigende Reihung die übliche.
Aber innerhalb der C-Potenzen gibt es Unterschiede: Es gibt die „Mehrglaspotenzen“ nach Hahnemann, es gibt die „Einglaspotenzen“ nach Korsakow, und es gibt „Fluxionspotenzen“ nach Fincke, Swan und Lock (Fluxionspotenzen: siehe auch hier).[34][35][47][48]
Kann man eine nach der Stärke geordnete Reihenfolge für die unterschiedlichen C-Potenzen finden? Was sagen die Homöopathen selbst?[49]
Die Aussagen der Homöopathen dazu sind widersprüchlich:
Chavanon | K-Potenzen (Einglaspotenzen) wirken stärker als H-Potenzen (Mehrglaspotenzen)[50] [51] |
Kritzler-Kosch | K-Potenzen (Einglaspotenzen) wirken schwächer als H-Potenzen (Mehrglaspotenzen)[31] |
Voegeli | K-Potenzen und H-Potenzen wirken gleich[33] |
Pierre Schmidt | K-Potenzen und H-Potenzen wirken nicht gleich. Man kann keine Berechnungen anstellen.[32] |
James Tyler Kent | Fluxionspotenzen nach Swan sind unwirksam. Sie sind ein Betrug der übelsten Sorte.[27][52] |
Skinner | Fluxionspotenzen nach Swan sind wirksam.[53] |
Potenzreihe mit D- und C-Potenzen
Die von Vehsemeyer beklagte zu große Lücke zwischen einer C2- und einer C3-Potenz war der Grund für die Einführung der D-Potenzen.
Will man eine centesimale C2-Potenz (/100 und nochmal /100 entspricht /10.000) durch dezimale(!) Verdünnungen herstellen, dann sind vier(!) „Doppelschritte“ erforderlich (jeweils 1x Verdünnen auf 1/10 und 1x Hinzufügen von zehn Schüttelschlägen). Unter dem alleinigen Gesichtspunkt der materiellen Arzneikonzentration haben eine C2 und eine D4 wie auch eine C3 und eine D6 die gleichen Verdünnungsgrade. Unter ausschließlicher Berücksichtigung der Verdünnung liegt also eine D5 zwischen einer C2 (=D4) und einer C3 (=D6).
Unter alleiniger Berücksichtigung der postulierten „immateriellen Arzneikraft“ hingegen wurde eine C2 mit 20 und ein C3 mit 30 Schüttelschlägen „dynamisiert“ – eine D5 jedoch mit 50 Schüttelschlägen. Wenn also eine D5 mit 50 Schüttelschlägen schwächer sein soll als eine C2 mit 20 Schüttelschlägen: Welchen Einfluss auf die Stärke haben dann die Schüttelschläge? Und warum werden so genaue Anweisungen gegeben („Macht’s nach, aber macht’s genau nach“[54])?
Beispielrechnung | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Führen wir die Vergleichsreihe zwischen C- und D-Potenzen fort, ergibt sich folgendes Bild:
Wechselt man jedoch unter Berücksichtigung der „Dynamisierung“ alternierend zwischen den C- und D-Potenzen, dann sähen die Ungleichungen folgendermaßen aus: |
Halten die D-Potenzen überhaupt das, was sie versprechen? Wie wir gesehen haben, hält Vehsemeyer die D-Potenzen für notwendig, um die großen Lücken zwischen den C-Potenzen zu verkleinern. Dorcsi hingegen schreibt, allgemein sei man der Ansicht, „dass zwischen der D30 und C30 bzw. D200 und C200 kein wesentlicher Wirkungsunterschied besteht“.[55]
Wenn C- und D-Potenzen im Wesentlichen gleich wirken – wie Dorcsi behauptet –, erhebt sich die Frage, warum im deutschsprachigen Raum die D-Potenzen bevorzugt werden. Wenn sie aber nicht gleich wirken, erhebt sich die Frage, warum der nicht-deutschsprachige Raum ohne D-Potenzen auskommt.
Die Bereiche „Tiefpotenz“, „mittlere Potenz“ und „Hochpotenz“ werden üblicherweise anhand der Potenzstufen definiert. Es gilt:[22]
Von | Bis | Bereich |
D1 / C1 | D11 / C11 | Tiefpotenz |
D12 / C12 | D29 / C29 | Mittlere Potenz |
D30 / C30 | ... | Hochpotenz |
Die bezogen auf die Verdünnungsgrade rechnerisch gleichen Stufen D20 und C10 sind nach dieser Tabelle also unterschiedlich zu bewerten: Eine D20 (mit 200 Schüttelschlägen) gehört zu den mittleren Potenzen und eine C10 (mit 100 Schüttelschlägen) zu den tiefen Potenzen. Ähnlich verhält es sich mit D30 und C15: Eine D30 (mit 300 Schüttelschlägen) gehört zu den hohen Potenzen, die rechnerisch gleich verdünnte C15 (mit 150 Schüttelschlägen) gehört zu den mittleren Potenzen. Hier gilt offensichtlich die Logik: Je mehr Schüttelschläge, desto höher die Potenz.
Paul Wassily (1868 – 1951) ist der Überzeugung, „daß C30 nur zahlenmäßig gleich D60 zu setzen ist, denn in der Wirkungen sind die beiden nach meiner über 50jährigen Erfahrung ganz verschieden, so dass ich nur C30 benutze, was viel sicherer und intensiver wirkt.“[31] Er findet also, dass eine C30 mit 300 Schüttelschlägen intensiver wirke als eine nur zahlenmäßig gleiche D60 (tatsächlich ist die Verdünnung zahlenmäßig gleich); die D60 ist jedoch mit 600 Schüttelschlägen ausgestattet – und trotzdem schwächer?
Eberhard Sievers ist der Meinung, es gäbe mehrere Wirkungsmaxima:
- Erstes Maximum: Urtinktur
- Zweites Maximum: D15
- Drittes Maximum: C200
Die dazwischen liegenden Potenzen hätten oftmals eine geringere Heilwirkung.[56] Demnach hätte Hahnemann, der viele Jahre mit der C30 gearbeitet hat, mit einer Potenz gearbeitet, die zu einem Wirkungsminimum gehört.
Sievers vertritt also die Meinung, dass es eine kontinuierliche Steigerung oder Abschwächung mit zunehmenden Potenzgraden nicht gibt; vielmehr wird eine periodische Zu- und Abnahme beschrieben.
Fazit: Eine Antwort auf die Frage, wie man D-Potenzstufen zwischen die C-Potenzstufen einordnen muss, damit eine aufsteigende Stärkereihe entsteht, ist offensichtlich nicht möglich.
Potenzreihe mit Q-Potenzen (LM-Potenzen)
Bei den Q-Potenzen verhält es sich ähnlich. Hahnemann hat die Q-Potenzen entwickelt, weil er „mildere“ Arzneien benötigte, die er – vor allem bei chronischen Krankheiten – häufiger geben durfte. Ein weiterer Aspekt der „Milde“ liegt in der angeblich geringeren Zahl der Erstverschlimmerungen bei den Q-Potenzen.[40] Zugleich benötigte Hahnemann aber auch Arzneien mit einer großen „immateriellen Arzneikraft“, also einer ausreichend hohen Zahl von Schüttelschlägen. Hahnemann schreibt im § 287 über seine „neuen Potenzen“, sie hätten die „höchste Kraft-Entwicklung und gelindeste Wirkung.“[9]
Im Gegensatz zu den D-Verdünnungsstufen mit je 1:10 und den C-Verdünnungsstufen mit je 1:100 sind die Q-Verdünnungsstufen mit je 1:50.000 sehr viel höher. Bereits mit wenigen Potenzierungsstufen erhält man „milde“ Arzneimittel. Es darf geschlossen werden, dass die „Milde“ eines Arzneimittels für Hahnemann abhängig ist von der Verdünnungsstufe und damit von der An- respektive Abwesenheit materieller Arzneisubstanzen.
Die Q-Potenzen sind erst 100 Jahre nach ihrer Aufnahme in die 6. Auflage des Organons durch Flury bekannt geworden. Zu diesem Zeitpunkt war die Avogadro-Konstante schon bekannt. Bei den D-Potenzen erreicht man die „Abwesenheitsgrenze der Materie“ in der Stufe D24. Bei den C-Potenzen ist diese Grenze in der Stufe C12 erreicht und bei den Q-Potenzen entsprechend etwas oberhalb einer Q5 – jedenfalls ist die Grenze in der Stufe Q6 sicher überschritten.
Bei Potenzstufen oberhalb einer Q6 kann die materielle Arzneisubstanz nicht mehr weiter abnehmen, mithin könnte die „Milde“ nicht mehr weiter zunehmen.[57] Trotzdem werden höhere Q-Potenzen eingesetzt, weil sie angeblich dennoch „milder“ und „stärker“ seien. Also beruht die „Milde“ offenbar doch nicht auf der Verdünnung, sondern eher auf der „Dynamisierung“.
Man könnte „Milde“ in Kombination mit „Stärke“ auch mit hohen D- oder C-Potenzen erreichen, wie das auch die Vertreter der Kent’schen Schule behaupten. Für Hahnemann und seine Schüler kommt das aber nicht infrage, weil die C-Potenzen durch die hohe Zahl der Schüttelschläge „zu stark“ wirken. Hahnemann und seine Schüler sind offenbar der Meinung, eine hohe Zahl an Schüttelschlägen sei der „Milde“ abträglich.
Potenzreihe mit Q-, D- und C-Potenzen
Will man eine 50.000er Potenzstufe durch mehrere aufeinanderfolgende 1:10-Verdünnungen herstellen, kann man das nicht genau erreichen. D4 entspricht einer Verdünnung von 1:10.000 (zu klein), D5 einer Verdünnung von 1:100.000 (zu groß). In der Praxis können Teilschritte bei Verdünnungen mit immer demselben Faktor 1:10 nicht erreicht werden. Mathematisch geht das schon: Man erreicht – rein rechnerisch – eine Verdünnungsstufe von 1:50.000, wenn man ca. 4,69 Verdünnungsschritte im Verhältnis 1:10 nacheinander ausführt (der Logarithmus von 50.000 zur Basis 10 ist ungefähr 4,69).
Will man eine 50.000er Potenzstufe durch mehrere 1:100-Verdünnungen nacheinander erreichen, dann sind – wiederum rein rechnerisch – ungefähr 2,35 Verdünnungsschritte erforderlich (der Logarithmus von 50.000 zur Basis 102 ist ungefähr 2,35).
Jede Potenzstufe einer 50.000er Potenz (Q-Potenz) würde, wollte man sie im D-Verfahren herstellen, entsprechend mit 47 – aufgerundet 50 – Schüttelschlägen bearbeitet, wollte man sie im C-Verfahren herstellen, entsprechend mit nur 23 – aufgerundet 30 Schüttelschlägen.
Jede Potenzstufe einer 50.000er Potenz im Q-Verfahren wird aber mit 100 Schüttelschlägen bearbeitet. Gegenüber D-Potenzen hat eine Q-Potenz pro 50.000er Schritt 50 Schüttelschläge mehr und gegenüber einer C-Potenz pro Potenzstufe sogar 70 Schüttelschläge mehr.
Hochstetter sieht das anders: Er rechnet aus, dass bei einem Verhältnis von 100 Schüttelschlägen auf eine Verdünnung von 1:50.000 entsprechend 1 Schüttelschlag auf eine Verdünnung von 1:500 anzunehmen sei. Wenn man dieser Argumentation weiter folgt, dann hätten die Q-Potenzen 1/5 Schüttelschlag auf eine Verdünnung von 1:100 und 1/50 Schüttelschlag auf eine Verdünnung von 1:10.[13] Hochstetter unterläuft hier ein Fehler: Er wendet mathematische Verfahren, die für arithmetische Folgen gelten, auf eine geometrische Folge an, für die sie nicht gelten. Die Zunahme der Verdünnung ist exponentiell und beschreibt eine geometrische Folge. Die mathematischen Umkehrungen der Potenzierung sind das Wurzelziehen und die Bestimmung des Logarithmus, nicht aber die Division.
Im Vergleich zu den Potenzen der D- und C-Reihe haben Potenzen der Q-Reihe beim selben Verdünnungsgrad eine deutlich höhere Anzahl an Schüttelschlägen – anders als Hochstetter angibt.
Sievers führt aus, gehäufte Arzneigaben – auch ein Kriterium für die „Milde“ – dürften aber nur bei D- oder Q-Potenzen erfolgen.[58] Nach Sievers sind also die Q-Potenzen mit der höchsten Zahl an Schüttelschlägen pro Potenzstufe die mildesten und die D-Potenzen mit der zweithöchsten Zahl an Schüttelschlägen pro Potenzstufe die zweitmildesten Potenzreihen, während die C-Potenzen mit der geringsten Zahl an Schüttelschlägen pro Potenzstufe die am wenigsten milde wirkende Potenzreihe ist. Offenbar nimmt die „Milde“ mit der Zahl der Schüttelschläge zu.
Wie verträgt sich Sievers’ Aussage mit Hahnemanns Beobachtung, dass C-Potenzen mit zunehmender Potenzhöhe (und zunehmender Gesamtzahl an Schüttelschlägen) immer stärker (aggressiver und weniger milde) wirken, während die Q-Potenzen mit zunehmender Potenzhöhe (und zunehmender Gesamtzahl an Schüttelschlägen) immer milder wirken?
Wenn eine hohe C-Potenz (mit einer geringeren Anzahl an Schüttelschlägen) stärker ist als eine nominell gleich hohe Q-Potenz (mit einer viel höheren Anzahl an Schüttelschlägen), dann kann die Stärke nicht mit der Anzahl der Schüttelschläge zunehmen. Die Stärke kann dann also nur etwas mit dem Verdünnungsgrad zu tun haben, denn bei gleicher Zahl von Schüttelschlägen sind die Potenzen der C- und D-Reihe stärker verdünnt als die der Q-Reihe.
Beispiel |
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Man benötigt in der Q-Potenzreihe für 600 Schüttelschläge eine Q6. Der Verdünnungsgrad von Q6 ist 1:6,25 x 1032, was dem Verdünnungsgrad etwa einer D33 oder einer C16 entspricht. Man benötigt für 600 Schüttelschlägen in der D-Potenzreihe eine Verdünnungstufe von D60, in der C-Potenzreihe eine von C60. Fazit: Bei gleicher Anzahl an Schüttelschlägen (im Beispiel 600), sind die Verdünnungsstufen D60 und C60 viel höher als die einer D33 oder C16, die von der Verdünnung her einer Q6 entsprechen.[57] |
Während die Anzahl der Schüttelschläge prinzipiell keiner Grenze unterliegt, unterliegt die Verdünnung jedoch der Avogadro-Grenze. Und das bedeutet, dass in Potenzstufen, deren Verdünnungsgrad oberhalb der Avogadrogrenze liegt, eine weitere „Verdünnung“ (die Verdünnung von Nichts zu weniger als Nichts ist unmöglich) durch einen Wechsel von den Q-Potenzen zu den D- oder C-Potenzen, die die gleiche Anzahl an Schüttelschlägen haben, angeblich trotzdem zu einer Zunahme der Stärke führt, obwohl weder die Anzahl der Schüttelschläge noch die materielle Verdünnung verändert wird. Anders ausgedrückt: Hohe – oberhalb der Avogadrogrenze liegende – Potenzen der Q-Reihe, D-Reihe und C-Reihe mit gleicher Anzahl an Schüttelschlägen unterscheiden sich nicht durch die Anzahl an Schüttelschlägen. Sie unterscheiden sich aber auch nicht durch die Verdünnung, die oberhalb der Avogadrogrenze immer gleich bleibt. Dennoch werden die Q-Potenzen als milder und die D- oder C-Potenzen als stärker eingeschätzt.
Die Frage war: Wie verträgt sich Sievers’ Aussage mit Hahnemanns Beobachtung? Die Antwort muss lauten: Sie verträgt sich nicht.
Dorcsi hat unter anderem folgende Erfahrungen mit Q-Potenzen gemacht:[55]
- LM-Potenzen seien universelle Potenzen, die man sowohl bei akuten als auch bei chronischen Krankheiten anwenden könne.
- LM-Potenzen seien echte Hochpotenzen, denn ihr Wirkungseintritt beginne innerhalb einer halben Stunde, ihre Wirkung könne man voraussagen, beobachten und lenken.
- Die Anwendung sei einfach, denn man könne sie sowohl als Einzeldosis einmal geben, wie auch – und darin sehe Dorcsi den besonderen Vorteil – bei den akuten Krankheiten und bei den histiostatischen chronischen Krankheiten entsprechend oft wiederholen, auch wenn eine Besserung eintrete.
- Durch die Herstellungsweise (50.000er Stufe) und durch die „Dynamisation“ vor jeder Gabe werde die Erstverschlimmerung vermieden oder stark abgeschwächt, was bei lebensbedrohlichen Zuständen von großem Vorteil sei.
- Soweit Dorcsi beobachtet habe, sei auch nach langer Verabreichungszeit keine Erschöpfung der Arzneiwirkung eingetreten,
Dahler schreibt dann auch ganz banal: „D- und C-Potenzen unterscheiden sich in Wirkung und Anwendung von LM- und Q-Potenzen.“[22] Mit Vergleichen zwischen Potenzgraden unterschiedlicher Potenzreihen gibt man sich offenbar nicht ab.
Fazit: Es ist also auch nicht möglich, Q-Potenzstufen zwischen die C-Potenzstufen so einzuordnen, dass eine aufsteigende Stärkereihe entsteht.
Wirkkraftbestimmung aufgrund der Wirkdauer
Es gibt theoretisch eine weitere Möglichkeit, die Stärke der Potenzen abzuschätzen: über die Wirkungsdauer. Stärkeren Potenzen wird eine längere Wirkungsdauer zugeschrieben.
Jan Geißler stellt folgende Tabelle mit Wirkzeiten der Potenzstufen auf:[59]
Potenzstufe | Wirkdauer |
C30 | 35 Tage |
C200 | 35 Tage |
C1.000 | 35 Tage |
C10.000 | 35 Tage |
C50.000 | 35 Tage |
C100.000 | 3 Monate |
C1.000.000 | 1 Jahr |
Emil Pelz stellt nachfolgende Tabelle mit Wirkzeiten von Potenzen auf. Er gibt an, die Tabelle nach Angaben von Pierre Schmidt aufgestellt zu haben.[29]
Bauer habe ergänzt – so Pelz –, dass die Mindestwirkzeit etwa halb so lang sei wie die durchschnittliche Wirkdauer.[29]
Potenzstufe | Wirkdauer | Mindestwirkdauer |
C30 | 15 Tage | 7,5 Tage |
C200 | 1 Monat | 2 Wochen |
C1.000 | 2 Monate | 4 Wochen |
C10.000 | 3 Monate | 6 Wochen |
C50.000 | 4 Monate | 2 Monate |
C100.000 | 6 Monate | 3 Monate |
C500.000 | 6 Monate | |
C1.000.000 | 1 Jahr |
In den Potenzstufen C30, C1.000, C10.000, C50.000 und C100.000 weichen die beiden Tabellen erheblich voneinander ab. Insbesondere in der Tabelle nach Geißler ist eine lineare Proportionalität nicht zu finden. Und auch in der unteren Tabelle nach Schmidt ist eine Proportionalität zur Kennzahl der Potenzstufe (Logarithmus der Verdünnung und Faktor der Schüttelschläge) nicht gegeben.
Emil Pelz schreibt:
Nach ‚Acta Homoeopathica’ Bd. XIII (1), S. 59 (unten), soll sogar P. Schmidt (Genf) selber erzählt haben, wie Hochpotenzen mitunter nichts ausrichten. Das heißt wenn man tatsächlich mit einer Gabe Phosphor eine Heilung in 13 Monaten vollbrachte, dürfte selbst die Ansicht nicht falsch sein, daß mitunter sogar die 30. Potenz länger wirken kann als die C1.000.000. Die These, daß man die hohen Potenzen zuerst verabreichen soll, und tiefere hinterher, scheint jedenfalls genauso verbreitet zu sein wie das Gegenteil (s. zum Beispiel Nash: ‚Leitsymptome in der homöopathischen Therapie’, S. 224. Ulm/D. 1959. Karl F. Haug Verlag).[29]
Auch hier die unbestimmte und wenig hilfreiche Aussage: Vielleicht wirken die höheren Potenzen besser, vielleicht aber auch die tieferen Potenzen.
Wirkkraftbestimmung mit Hilfe eines mathematischen Modells
Urs Steiner schlägt vor, den Potenziervorgang mit Hilfe eines mathematischen Modells – einer mathematischen Gleichung – zu beschreiben. Und er verfällt auf die Idee, dass eine „logistische Parabel“ – eine nach unten geöffnete Parabel – die richtige Beschreibung für den Potenziervorgang sei. Seine Begründung: Die logistische Parabel beschreibe die Populationsdynamik.
An dieser Stelle muss man nicht auf die vielen mathematischen Formeln eingehen, die Steiner zur Berechnung der Parabel angibt: Die Eingangsbedingung ist bereits falsch. Es erschließt sich nicht, was ein Potenziervorgang mit einer Populationsdynamik zu tun haben kann. Es erschließt sich nicht, was eine exponentielle Konzentrationsabnahme oder eine lineare Zunahme an Schüttelschlägen mit einer Parabel zu tun haben kann, insbesondere mit einer nach unten offenen Parabel, deren Funktionswerte auch negativ – unendlich negativ! – werden. Mathematische Modelle sollen die Realität abbilden; sie dürfen nicht unbegründet einfach ausgedacht und postuliert werden.[60]
Neben der kontinuierlich aufsteigenden, kontinuierlich absteigenden und oszillierenden Reihung bringt Steiner noch eine nach unten offene Parabel als Funktion der Stärke in die Diskussion – allerdings vollkommen unbegründet.
Die Frage nach der Wirkungskraft in der Potenz, nach einer Ordnung im System unterschiedlicher Potenzen, bleibt unbeantwortet. Die Frage ist offensichtlich auch unbeantwortbar.
Georg Wilhelm Maag erklärt, warum:
Aus den Befunden vom Verfasser ist zu erkennen, daß sich der Vorgang bei der Homöopathisierung als ein vielfältiger erweist. Einerseits erscheinen Faktoren wie Schüttelzeit und Schüttelrhythmus von Bedeutung, andererseits finden sich Zusammenhänge mit den Mondphasen, den Stellungen des Mondes zur Sonne, und damit mit den Sonnen- und Mondkräften, man könnte auch sagen, mit kosmischen Äthervorgängen.[61]
Maag verweist an gleicher Stelle auch auf seine eigenen weiteren Abhandlungen:[61]
- Ist die Verdünnung in der Potenzreihe eine Art Atomzerfall oder geht bei der Homöopathisierung etwas anderes vor? (Allg. homöop. Ztg 1956, 5: 174).
- Nachweis der Wirkung von Hochpotenzen durch eine physikalische Methode (Z. klass. Homöop. 1959, 2: 107).
- Die Schüttelzeit, ein Grundfaktor der Heilwirkung eines potenzierten Arzneimittels (Allg. homöop. Ztg 1956, 11: 385).
- Der Schüttelrhythmus bei der Potenzierung (Z. klass. Homöop. 1959, 1:31)
Potenzen in der Homöopathischen Arzneimittelprüfung (HAMP)
Eine der Grundsäulen der Homöopathie ist die Ähnlichkeitsregel.[62] Arzneimitteln wird ein „Arzneimittelbild“ zugeordnet: Die Gesamtheit aller Symptome (Vergiftungssymptome), die ein Gesunder entwickelt, wenn er das zu testende Arzneimittel nimmt. Dieses Arzneimittelbild wird aufgezeichnet und katalogisiert, so dass es im homöopathischen Behandlungsfall schnell gefunden werden kann.
Für die homöopathische Arzneimittelprüfung („HAMP“) sind definierte Potenzen nicht vorgeschrieben. Hahnemann schreibt:
Es ist also kein Weg weiter möglich, auf welchem man die eigenthümlichen Wirkungen der Arzneien auf das Befinden des Menschen untrüglich erfahren könnte – es giebt keine einzige sichere, keine natürlichere Veranstaltung zu dieser Absicht, als daß man die einzelnen Arzneien versuchsweise gesunden Menschen in mäßiger Menge eingibt, um zu erfahren, welche Veränderungen, Symptome und Zeichen ihrer Einwirkung jede besonders im Befinden Leibes und der Seele hervorbringe, das ist, welche Krankheits-Elemente sie zu erregen fähig und geneigt sei, da, wie (§ 24-27) gezeigt worden, alle Heilkraft der Arzneien einzig in dieser ihrer Menschenbefindens-Veränderungskraft liegt, und aus Beobachtung der letztern hervorleuchtet.[63]
HAMPs können mit der Urtinktur durchgeführt werden – wenn man weiß, dass die Urtinktur ungiftig ist. Falls die Urtinktur giftig ist, muss die HAMP mit einer potenzierten Form durchgeführt werden. Zitat aus einem Erfahrungsbericht: Man „hat uns die Prüfsubstanz in einer D3 und einer C30 zur Verfügung gestellt.“[64]
Nun geht die Homöopathie aber davon aus, dass Tiefpotenzen andere Wirkungen haben als mittlere Potenzen und Hochpotenzen. Entsprechend ist zu erwarten, dass sich auch die Arzneimittelbilder ein und derselben Ursubstanz in Abhängigkeit von der Potenzstufe unterscheiden.
Die Ergebnisse der Homöopathischen Arzneimittelprüfungen hängen offenbar von der zufällig gewählten Potenzstufe der Testarznei ab.
Innere Widersprüche
Tiefpotenzler und Hochpotenzler
Hahnemanns Anliegen war zunächst, die toxikologische Wirkung der Arzneien zu reduzieren, was er durch Verdünnung erreichte. Die zu wählende Arzneipotenz war abhängig vom Patienten und von der Arznei selbst. Um 1833 war die C30 die Normdosis, die durch Globuli verabreicht wurde oder durch Riechenlassen.[22] Hahnemann beschrieb das „Riechenlassen“ an der Arznei C30 als gleichberechtigte Arzneianwendung in der 5. Auflage seines Organon[65] – „Wohlgemerkt, Riechen an einem trockenen Globulus, wie Hahnemann es in den CK (CK hier: „Chronische Krankheiten“[17]; Anmerkung von Homöopedia) auf Seite 160 beschreibt. Das Riechenlassen an einem frisch mit Wasser befeuchteten Globulus oder gar an einer ethanolisch-wässrigen Auflösung des Globulus, wie es Hahnemann in § 284 ORG angibt, bewirkt allzu heftige Reaktionen, wie Kolleginnen und Kollegen erfahren mussten“ – so Rissel.[66]
Im Laufe der Zeit sind die verwendeten Potenzgrade gestiegen. Hahnemann selbst hat gegen Ende seines Lebens die Q-Potenzen verwendet, die aber 100 Jahre lang bis zur „Wiederentdeckung“ durch Flury 1942 unbekannt blieben. Seine Schüler haben – in Unkenntnis von Hahnemanns letzter Erfindung – die konventionellen Potenzen zu immer höheren Graden geführt.
Im Jahre 1844 wird erstmals berichtet, dass Caspar Julius Jenichen (1787 – 1849) C-Potenzen von C200 bis zur C16.000 von Hand herstellte. Die Reaktion auf diese hohen Potenzen war unterschiedlich. Es gab Homöopathen, die sie ablehnten und andere, die zustimmten. Hering und Bönninghausen gehörten zu den Befürwortern der hohen Potenzen. James Tyler Kent nutzte die Entwicklung von Potenziermaschinen und verwendete Potenzen bis zur C1.000.000. Kent ist der bedeutendste Vertreter der Hochpotenzen. Die Anhänger Hahnemanns und der Hochpotenzen sind die Vertreter der „klassischen“ oder „genuinen“ Homöopathie. Sie berufen sich auf ihre positiven Erfahrungen mit Hochpotenzen und halten die Erfahrung für das entscheidende Kriterium.[22]
Die „Tiefpotenzler“ nennen sich „freie Homöopathen“ oder „klinische Homöopathen“ und lehnen Hochpotenzen oberhalb C30 ab. Nach Bekanntwerden der Loschmidt-Konstante (1865) verschoben sich die von den Tiefpotenzlern verwendeten Potenzen weiter nach unten in Richtung der tiefen D-Potenzen. Die Tiefpotenzler – wichtige Vertreter sind Alfons Stiegele (1871 – 1956), Hans Wapler (1866 – 1951), Moritz Müller (1784 – 1849), Ludwig Grießelich (1804 – 1848) und Julius Mezger (1891 – 1976) – bemühten sich um eine „naturwissenschaftlich-kritische“ Homöopathie.[22] Ein zeitgenössischer maßgeblicher Vertreter der freien Homöopathie ist u.a. Dr. med. Markus Wiesenauer, der neben seiner Praxistätigkeit auch als Referent und Autor tätig ist.
Mezger schreibt:
Hinsichtlich der Wahl der Potenzstufen gibt es keine feststehenden Regeln von allgemeiner Gültigkeit. Es zeichnen sich zwei Richtungen ab mit gleichermaßen überzeugter Anhängerschaft. Die eine Richtung verwendet hauptsächlich Tiefpotenzen und kann als ‚Klinische Homöopathie’ bezeichnet werden. Die andere Richtung verwendet hauptsächlich Hochpotenzen und kann als ‚Klassische Homöopathie’ bezeichnet werden.[67]
Gegenwärtig werden alle Verfahren nebeneinander angewendet.[22]
50.000er Potenzen und die Kent’sche Schule
Pierre Schmidt als ein führender Vertreter der Kent’schen Schule war offenbar mit Hahnemanns letztem Vermächtnis der „Médicaments au globule“ nicht sehr glücklich. Im Jahre 1936, also 15 Jahre nach Richard Haehls Erstveröffentlichung der 6. Auflage des Organons, hat Schmidt diese Potenzen selbst auf dem Internationalen Liga-Kongress der homöopathischen Ärzte keiner Erwähnung für würdig erachtet. Und 1952, damit 10 Jahre nach Flurys Wiederentdeckung der 50.000er Potenzen, hat er sie anlässlich seiner Übersetzung des Organons ins Französische wohl rechnerisch erwähnt, Flury aber nicht genannt.[68] Und 1961 schrieb er in einem Artikel:
Sicherlich konnte Hahnemann nicht alles wissen. Und Kent, der die Methode der hohen Dynamisation begründete, hat damit eine Methode geschaffen, die praktisch so einfach und unkompliziert in ihrer Anwendung ist und andererseits so ausgezeichnete Resultate ergibt, daß man die Q-Potenzen nur in ausgesprochenen Ausnahmefällen zu verordnen braucht, wo die Kent'sche Methode nicht anwendbar ist oder versagt. Ich für meinen Teil brauche die Q-Potenz vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr.[32]
Er hintertrieb damit Hahnemanns Anweisung und blieb auf der Seite von Kent mit dessen seltenen Gaben sehr hoher C-Potenzen.[68]
Potenzen und Arzneimittelbild
Meili schreibt:
Je höher die Potenz, desto tiefgreifender ihre Wirkung, desto größer die Gefahr heftiger Erstverschlimmerungen und desto ähnlicher muss das Mittel im Krankheitsfall sein, um wirken zu können.[69]
Bönninghausen schreibt dagegen:
Je höher die Potenz, desto breiter die Wirkung. Darin liege gerade der Vorteil der Ultrahochpotenzen (K-Potenzen, Fluxionspotenzen), dass man das Arzneimittelbild nicht mehr genau auswählen müsse.[27]
Die Äußerungen von Meili und Bönninghausen widersprechen sich vollständig. Meili behauptet, je höher die Potenz, desto schmaler das Spektrum des Arzneimittelbildes und Bönninghausen behauptet, je höher die Potenz, desto breiter das Spektrum des Arzneimittelbildes.
Es gibt dabei noch einen weiteren Gesichtspunkt: Wenn das Arzneimittelbild sich mit der Potenzhöhe ändert, dann ist das bei der Homöopathischen Arzneimittelprüfung (HAMP - siehe oben) gefundene Arzneimittelbild ein Zufallsbefund – abhängig von der zufällig gewählten Potenzhöhe. Die Auswahl eines solchen Homöopathikums aufgrund der Repertorisierung würde zu einer Falschauswahl führen, wenn nicht zufällig auch die Prüfpotenz als Therapiepotenz gewählt wird. Das wiederum hätte auch Konsequenzen für die gesamte homöopathische Therapie: die Potenzabstufungen nach der Kent'schen Reihe (siehe oben) wären obsolet.
Verunreinigungsproblem
Die Herstellung von Arzneipotenzen setzt eine Verdünnung mit wirkstofffreiem Lösungsmittel voraus – das ist aber technisch nicht möglich.
Verunreinigungen in den Lösungsmitteln werden bei jedem Verdünnungsschritt in immer gleicher Konzentration zugeführt (z.B. ist der Grenzwert für Quecksilber im Trinkwasser: 0,001 mg/l ≈ D9 ≈ C5)[70][71], so dass die Abnahme der materiellen Konzentration aller Verunreinigungssubstanzen unter deren Konzentration im Lösungsmittel nicht möglich ist. Gleichwohl werden aber auch die Verunreinigungen einer „Dynamisation“ durch Verreiben oder Verschütteln ausgesetzt.
Problematisch für die Herstellung von Potenzen ist, dass viele Verunreinigungsstoffe des Lösungsmittels (z.B. Quecksilber) ein eigenes homöopathisches Arzneimittelbild haben, dass mithin diesen Verunreinigungsstoffen eine eigene homöopathische Wirkung zugesprochen werden müsste. In der Homöopathie geht man aber davon aus, dass Wirkstoffspuren im Lösungsmittel nicht mitpotenziert werden.[72]
Die Lehrbarkeit der Homöopathie
Für die individuelle Behandlung gibt es eine Vielzahl an verschiedenen Arzneien, Potenzreihen oder Potenzstufen. Fortgeschrittene wählen andere Potenzen als Anfänger oder Laien.[22]
Homöopathie setzt nach eigenem Anspruch Erfahrung voraus. Die Existenz unterschiedlicher Strömungen der Homöopathie belegt, dass jeder Homöopath seine eigene Erfahrung hat, die denen anderer Homöopathen offenbar auch widersprechen kann. Tiefpotenzler berichten über ihre Erfolge und kritisieren Hochpotenzler als „Betrüger“. Hochpotenzler berichten über ihre Erfolge und kritisieren Tiefpotenzler als „Verräter“.[22][18]
Wie sollen Anfänger, die ihre Erfahrungen mit Tiefpotenzen sammeln, zu Erfahrungen mit Hochpotenzen kommen? Wie sollen Laien zu Erfahrungen kommen?
Dingler und Rissel schreiben:
Nach erfolgter Auswahl der passenden homöopathischen Arznei sind die geeignete Form der Arzneiapplikation, die Potenzart und -höhe sowie die Dosierung festzulegen. Die in der Literatur niedergeschriebenen und in den Weiterbildungskursen gegebenen Anweisungen hierfür sind sehr unterschiedlich, je nach persönlicher Erfahrung des Arztes. Daraus resultiert eine gewisse Unübersichtlichkeit, die dem Anfänger die Orientierung erschwert.[73][74]
Es stellt sich daher die Frage, wie Homöopathie überhaupt gelehrt werden kann.
Georg von Keller schreibt:
Grundlage alles Lehrbaren und Lernbaren ist die Eindeutigkeit, die Ausmerzung alles Vieldeutigen, Subjektiven, Phantasievollen und Individuellen.
Hahnemann mutete seinen Schülern zu:
Prüfungen ernst zu nehmen, in denen an Stelle von objektiv nachprüfbaren Ergebnissen Phantasieprodukte rein subjektiver Art als ‚Symptome’ aufgetischt wurden, und das nicht nur jeweils für ein Mittel sondern immer wieder die gleiche Art von vieldeutigen Empfindungen und Einbildungen für ganz verschiedene Mittel.[75]
Bereits seine Zeitgenossen – unter anderem Ludwig Grießelich (1804 – 1848) – forderten Hahnemann auf, diesen Weg zu verlassen und sich auf seine Pflicht zur Wissenschaftlichkeit zu besinnen. Sie bezeichneten sich selbst als „Spezifiker“ – Hahnemann nannte sie „Halbhomöopathen“.[75] Das Problem der Lehrbarkeit ist unverändert existent. Keller schreibt:
Homöopathie ist keine Lehre, sondern eben diese Tätigkeit. Übung, dauernde Übung, macht den Meister, wie in jeder handwerklichen oder künstlerischen Tätigkeit. Hat man die Theorie der Homöopathie verstanden, ist man noch kein Homöopath, wie Hahnemann es am Ende seines Lebens gemeint hat. Nach dem Studium eines Lehrbuchs der Homöopathie sieht die homöopathische Tätigkeit sehr einfach aus, und man wundert sich, warum die Homöopathen nicht einer Meinung sind.[75]
Schlussbemerkung
Der Verdünnungsvorgang bei allen Potenzen betrifft lediglich die materiellen Arzneikräfte. Jenseits der Avogadrogrenze sind weitere Verdünnungen nicht möglich (vom Verunreinigungsproblem der Verdünnungslösung abgesehen).
Die Verschüttelung bezieht sich auf postulierte und aus prinzipiellen Gründen nicht nachweisbare immaterielle Arzneikräfte, die aber – selbst wenn sie existieren würden – keinen Einfluss auf den Körper der Patienten haben könnten.
Der Potenzierungsvorgang soll nur auf die Wirkstoffe der Ausgangssubstanzen, nicht jedoch auf die Wirkstoffe in Lösungsmitteln wirken. Physikalisch ist eine Zuteilung der Wirkung von Schüttelschlägen oder Verreibungen lediglich auf die Ausgangssubstanz, nicht aber auf die Verunreinigungssubstanz, unmöglich.
Fazit: Die Herstellung von pharmakologisch wirksamen Medikamenten durch Verdünnen und Verschütteln ist nicht möglich.
An der Erstellung des Gedankengebäudes „Homöopathie“ sind ganz offensichtlich über einen langen Zeitraum viele Homöopathen beteiligt gewesen. Eine Absprache untereinander scheint es nicht gegeben zu haben – zu unterschiedlich und widersprüchlich sind die einzelnen Lösungsansätze. Probleme bei der Behandlung werden mit dem Hinzufügen neuer Lehrsätze beantwortet: Erhöhungen der Verdünnungen bei dem einen, Verringerungen der Verdünnungen bei dem anderen, Veränderungen der „Dynamisierung“ durch mehr oder durch weniger Schüttelschläge und durch Veränderungen der Verhältnisse von Schüttelschlägen pro Verdünnungsstufe. Sie umfassen Änderungen im Herstellungsverfahren – von der Mehrglasmethode über die Einglasmethode zur Fluxionsmethode. Die hinzugefügten neuen Lehrsätze sollen die Wirkstärke modellieren, die Wirkungsbreite, die „Milde“, den Wirkungseintritt, die Wirkungsdauer, die Häufigkeit der Arzneigaben, die Beeinflussung der Erstverschlimmerung. Hinzu kommt noch eine stete Suche nach neuen Arzneimittelbildern und eine Ausweitung der Arzneimittelportfolios. Dieser Gesichtspunkt sei nur der Vollständigkeit halber am Rande erwähnt; er ist nicht Thema dieses Artikels.
Allen Änderungen werden gleichermaßen Wirkungen zugesprochen allein aufgrund einzelner Erlebnisse, die als „persönliche Erfahrungen“ gewissermaßen Axiomen gleichgestellt sind. Die Erfahrungen anderer Homöopathen spielen dabei für die jeweils eigenen Erfahrungen ganz offensichtlich keine Rolle.
Die Versuche, 50.000er Potenzen korrekt zu berechnen, ergeben bei den Q-Potenzen nach Hahnemann Verdünnungsgrade von 1:50.000 oder „mehr noch als 1:50.000“ (Hahnemann), 1:292.000, gerundet 1:300.000 (Hochstetter) oder auch 1:292.000 und 1:283.000 (Voegeli). Es wird ein Rechenergebnis von 1:166.500 erzielt, welches auf 1:500.000 „gerundet“ wird (Pelz). Und bei LM-Potenzen nach Voegeli werden Verdünnungsgrade von 1:50.000 angegeben (Voegeli, Hochstetter, Pelz u. a.) sowie 1:22.700 (Grimm). Und bei dem Versuch, das Verhältnis von Schüttelschlägen pro Verdünnungsgrad zu berechnen, kommen mathematisch völlig untaugliche Methoden zur Anwendung (Division anstatt Logarithmierung, siehe hierzu den Artikel über Q-Potenzen).
Die Hilflosigkeit und das Chaos innerhalb des Gedankengebäudes der Homöopathie sind unübersehbar. Das „Gesamtkunstwerk Homöopathie“ ist in sich voller Widersprüche. Diese Widersprüche können nur dann gleichzeitig nebeneinander bestehen, wenn der Gegenstand der Homöopathie irreal ist und die Widersprüche sich nicht auf Fakten beziehen, sondern lediglich auf Meinungen – und auch dann nur, wenn man bereit ist, widersprüchliche Meinungen gleichzeitig zuzulassen.
Die Wissenschaft kann das nicht – sie darf es nicht einmal, sonst gäbe es keinen Erkenntnisgewinn. Aber genau das fordert Hahnemann (zitiert nach Gebhardt):
Ich fordere gar keinen Glauben dafür und verlange nicht, dass dies jemandem begreiflich sei. Auch ich begreife es nicht; genug aber, die Tatsache ist so und nicht anders. Bloß die Erfahrung sagt’s, welcher ich mehr glaube als meiner Einsicht.[3]
Keller appelliert, zu lernen, mit den Widersprüchen umzugehen. Wissenschaft bedeutet jedoch, zu erforschen, wie die Widersprüche aufgelöst werden können.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Homöopathie ein Problem mit der Lehrbarkeit hat. Und das Problem mit der Lehrbarkeit ist bei weitem nicht das einzige Problem der Homöopathie.
Schlusswort von Georg von Keller:
Die beschriebenen, nebeneinander bestehenden Forschungsergebnisse Hahnemanns, die Verdünnung auf der einen Seite, die Potenzierung auf der anderen, sind nicht folgerichtig. Sie widersprechen einander und doch sind es experimentell gefundene Tatsachen. ... Nur, wenn man solche, scheinbar widersprüchliche Dinge in der Schwebe halten kann, läßt sich mit ihnen umgehen.[18]
Quellen- und Literaturangaben |
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